»Squid Game«: In der Tiefe der Oberflächlichkeit

Manipulatives Meisterwerk: Die zweite Staffel von »Squid Game« macht fast das Gleiche wie die erste – aber eben nur fast

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Dieses Spiel »wird erst enden, wenn die Welt sich ändert«, sagen die Veranstalter.
Dieses Spiel »wird erst enden, wenn die Welt sich ändert«, sagen die Veranstalter.

Konjunktive sind die Stacheln verpasster Chancen. Hätte ich bloß mehr Sport getrieben, eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen, Vokabeln gelernt oder auch das, was Seong Gi-hun in einer Seriensensation sondergleichen dauernd hört: »Das Flugzeug genommen!« In die USA nämlich, wo sich der spielsüchtige Südkoreaner nach seinem Sieg im mörderischen »Squid Game« mit 45,6 Milliarden Won, umgerechnet rund 33 Millionen Euro Gewinn niederlassen wollte. Eigentlich – Konjunktiv eben.

Denn im Indikativ macht er kurz vorm Einchecken kehrt und registriert sich aufs Neue für diesen wahnsinnigen Wettbewerb, den nur ein einziger Teilnehmer überleben kann. Die südkoreanische Produktion »Squid Game« bescherte Netflix in vier Wochen 142 Millionen Zugriffe und ist damit bis heute die erfolgreichste Streaming-Serie aller Zeiten. Ihre Fortsetzung stand demnach außer Frage. Ihr Inhalt allerdings auch. Schließlich deutet Gi-hun im Cliffhanger der letzten Folge der ersten Staffel den Rachefeldzug der zweiten Staffel an, die Ende Dezember mit viel PR-Getöse angelaufen ist.

In der ersten Staffel war der hoch verschuldete Endvierziger mit 455 Schicksalsgenossen für einen Wettbewerb auf Leben und Tod kaserniert. Bewacht von bizarr uniformierten Wärtern, mussten sie auf einer abgelegenen Insel Kinderspiele spielen, deren Verlierer nicht rausfliegen, sondern sterben. Sechs weltweit gefeierte, aber auch hart kritisierte Splatter-Folgen später blieb nur Gi-hun übrig. Als Won-Milliardär stand er somit an der Schwelle einer sorglosen Existenz – wären ihm keine Skrupel gekommen.

Doch zu Beginn der Fortsetzung schneidet er sich einen Peilsender aus dem Hals und beginnt, Gleichgesinnte zu rekrutieren, um der mysteriösen Macht hinter dem menschenverachtenden Spektakel das Handwerk zu legen. Anders als in der ersten Staffel geht es in der neuen ein bisschen weniger um moderne Gladiatorenkämpfe. Zielte der Regisseur Hwang Dong-hyuk nach eigenem Drehbuch einst lustvoll auf die wachsende Fangemeinde der südkoreanischen Popkultur, rückt Lee Jung-jaes Hauptfigur nun moralische Fragen ins Zentrum der Handlung.

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»Das waren ohnehin nur Menschen, die das Spiel schon verloren haben, und jeden Tag wird neuer Abschaum in der Welt ausgekippt«, lehnt der sinistre Organisator die Bitte ab, das »Squid Game« abzubrechen. Denn »das Spiel wird erst enden, wenn die Welt sich ändert«. Das klingt zivilisations-, konsum-, gar kapitalismuskritisch. Der philosophische Überbau allerdings, ob der Mensch im turboliberalen Überwachungsstaat des Menschen ärgster Feind sei, ist letztlich nur Mittel zum Zweck: voyeuristische Brutalität.

Das »Death Poll« genannte Leichenbarometer steigt nun noch schneller als drei Jahre zuvor, weil es in einem kindlich dekorierten Zirkus Maximus zur schwerbewaffneten Schlacht zwischen den Teilnehmern untereinander und ihren Wachleuten kommt. Für empathie- und vernunftbegabte Menschen wäre so viel selbstreferenzielle Gewalt ein permanenter Impuls, auszumachen. Zu dumm nur, dass Hwang sein manipulatives Meisterwerk nicht nur optisch, sondern auch dramaturgisch zur Perfektion treibt.

So gleicht das siebenstündige Schlachtfest einem Reisebus von Menschenfeinden, der in drei Laster voller Zombies, Feuerwerk und Sprengköpfe rast. Als hätte Quentin Tarantino den neuen 007 am Set der Sixties-Legende »Nummer 6« alias »The Prisoner« gedreht, kann man den Blick kaum abwenden von dieser bonbonbunten Dystopie. Was einiges mit ihrem Drehort zu tun hat. Seit der südkoreanische Rapper Psy 2012 seinen »Gangnam Style« tanzte, ist das K-Pop genannte Plastikentertainment asiatischer Art globaler Mainstream – und macht auch deren formverliebte Inhaltsleere massentauglich.

Die Bild- und Tonsprache unzähliger Filme, Serien, Bands, Produkte von der geteilten Halbinsel besteht aus einer Mischung aus brachialem Overacting und optisch attraktiver Oberfächlichkeit, als sei Greta Gerwigs »Barbie«-Film in eine DVD-Box mit Godzilla-Filmen gefallen. Daran können weder die vier Oscars für Bong Joon-hos Meisterwerk »Parasite« (2019) noch Lee Sung Jins faszinierendes Netflix-Psychogramm »Beef« (2023) etwas ändern. Zwischen saftiger RomCom von »True Beauty« bis »Girl Next Door« und dem Literaturnobelpreis für Hang Kang rangiert »Squid Game« ungefähr in der Mitte.

Fast infam gewaltverherrlichend und schauspielerisch mitunter auf unterstem Kung-Fu-Filmniveau der Siebzigerjahre, sind die Spannungsbögen, Kulissen und Charaktere überwiegend so fesselnd, dass sich auch die dritte Staffel vermutlich lohnen dürfte. Und ein Prequel … Und ein Spin-Off … Und das Musical … Wenn die Verwertungsmaschinerie zwischen Hollywood und Seoul einmal läuft, ist sie schwer zu stoppen.

»Squid Game«, 2. Staffel, auf Netflix

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