Twincest

Von den Schwierigkeiten, Richard Wagner im Konzert zu hören

Es ist anstregend, Richard Wagner zu singen: Michael Volle bei einer Generalprobe der Aufführung von »Die Walküre« in der Berliner Staatsoper 2022. Noch anstrengender ist es, in Texas Wagner hören zu wollen.
Es ist anstregend, Richard Wagner zu singen: Michael Volle bei einer Generalprobe der Aufführung von »Die Walküre« in der Berliner Staatsoper 2022. Noch anstrengender ist es, in Texas Wagner hören zu wollen.

Howdy aus Texas, liebe Leser*innen, wir alle haben unterschiedliche »bucket lists«, einige wollen bestimmte Orte bereisen, »bevor sie sterben«, andere einmal von einer Klippe bungeespringen und eventuell dabei sterben, manch einer träumt gar von einer ménage à trois inklusive petite mort (für die Nichtromanisten unter uns: »petite mort« heißt zwar auf Französisch »kleiner Tod«, steht aber umgangssprachlich für den großen koitalen Höhepunkt). Ich habe aufgrund meines Geisteswissenschaftsstudiums viele kulturelle »bucket items« abzuhaken, wie bestimmte Arthouse-Filme gucken oder kanonische literarische Werke lesen. Aber Ovids »Metamorphosen« stehen noch immer da, wo ich sie vor vielen Jahren ungelesen gelassen habe ̶ im Bücherregal meines Hamburger Elternhauses, in sicherer Entfernung von mir; denn für eine Literaturwissenschaftlerin bin ich ungewöhnlich wenig motiviert, stark abgelenkt und lese unglaublich langsam.

Trotzdem gefiel mir eine Tiktok-Challenge gut, bei der man innerhalb eines Jahres aus jedem Land der Welt ein Buch lesen sollte. Um in einem Jahr 195 Romane zu lesen, müsste ich allerdings für das gesamte Jahr in einen Knast gesperrt werden, denn unter keinen anderen Umständen könnte ich sonst meine Handysucht aufgeben. Zeit, um der Kultur willen eine Straftat zu begehen?

Talke talks

News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.

Kommen wir zu meiner musikalischen »bucket list«: Anna Netrebko ist zwar wieder entcancelt, ein Ticket für ihr kommendes Konzert im floridianischen Palm Beach kostet aber leider 1 250 Dollar. Auch der Wagnersche Ringzyklus ist auf meiner Liste. Dass ich gerade in Dallas in seinen Genuss kommen würde, hätte ich nicht erwartet. Oper und Symphonie sind in Texas ein etwas anderes Erlebnis als in Deutschland. Das Publikum ist wesentlich dankbarer und heiterer (es wird auch viel mehr gesoffen, vor und während der Veranstaltung); man klatscht öfter und kräftiger, und noch nie war ich in einem hiesigen klassischen Konzert, bei dem nicht am Ende das ganze Publikum zum Applaus aufgesprungen wäre. Beim Ballett wird bei jeder kompliziert aussehenden Figur (ist das nicht die Natur des Balletts?) gejubelt und gejauchzt. Was für ein Kontrast das für russische Nussknacker-Tänzer sein muss, die zu Hause Kritik und Häme gewohnt sind! Mehr Applaus, mehr Respekt, mehr Kohle, mehr Sicherheit? Wie der rätselhafte Tod des Ballettstars Wladimir Schkljarow neulich gezeigt hat, hat Mikhail Baryshnikov mit seiner Flucht in die USA damals alles richtig gemacht.

Und wenn wir schon bei Osteuropa sind: Auch in Texas sind die Frauen besser und die Männer schlechter gekleidet als in Deutschland. Sie in eleganter, oft bodenlanger Abendrobe, mit professionell frisierten Haaren und sehr highen Heels; er im schlechtsitzenden, missgematchten Anzug, eventuell gar behuft mit athletisch-weißen Schuhsohlen! In Deutschland ist mehr Gleichheit ̶ Paare sind meist gleich gut oder schlecht, am häufigsten aber gleich mittelmäßig angezogen.

Doch zurück zu Richard. Beim ersten Teil von »Ring des Nibelungen«, dem »Rheingold«, hatten wir unsere Bekannten dabei (sie lesen nicht mit, daher erlaube ich mir eine hier sonst ̶ wie meine Leser*innen natürlich wissen ̶ nie vorkommende Lästerei): sie Russin, er schlecht angezogener Ami, beide enorm pseudointellektuell ̶ und beide schliefen während der Aufführung ein. Den zweiten Teil mit der meiner Meinung nach besten Musik, die legendäre »Walküre«, konnten wir nicht zu Ende hören, weil unsere Freunde nur eine begrenzte Zeit auf unsere Tochter aufpassten. Der Aufbruch nach dem zweiten Akt fühlte sich wie ein »petite mort« an, aber nicht im guten Sinne.

Für »Siegfried« und »Götterdämmerung« holten wir uns eine Babysitterin (die richtig Kasse gemacht hat bei zwei Mal acht Stunden!) und mussten uns, da es ihr terminlich nicht anders passte, beide innerhalb einer Woche reinballern. Nach dieser tour de force durch eine komplett irre Story von Inzucht (im Programm liebevoll »Twincest« genannt, weil zwischen Zwillingen, obwohl der zwischen Tante und Neffen auch nicht ohne war), Raub, Mord und einem schlechten Vater, verstand ich, warum man Wagner trotz seines glühenden Antisemitismus in Israel aufführt: Die Musik ist einfach geil. Bevor man also den bucket kickt (englisch für »abkratzt«), sollte man sich den Ring des Nibelungen reinziehen, oder aber: Bevor es nach Walhalla geht, empfehle ich, sich die Walküren anzuhören.

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