Rechte Szene in Berlin: Sind die 90er zurück?

Zunehmende Gewaltbereitschaft in neuen Netzwerken junger Neonazis

  • Robin Maxime Pohl
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Rückkehr der Glatzen: junge Neonazis im Dezember in Friedrichshain mit White-Power-Handzeichen
Die Rückkehr der Glatzen: junge Neonazis im Dezember in Friedrichshain mit White-Power-Handzeichen

Am frühen Mittag des 14. Dezember überfiel mehr als ein Dutzend Neonazis ein Wahlkampf-Team der SPD am Bahnhof Lichterfelde-Ost. Dabei sollen sie die Betroffenen geschlagen und ihnen mit Stiefeln gegen Bauch und Gesicht getreten haben. Auch einschreitende Polizeibeamte wurden Berichten von Betroffenen zufolge aus der Gruppe heraus attackiert. Insgesamt wurden vier der Angreifenden vor Ort festgenommen, im Anschluss ergingen Haftbefehle. Drei mutmaßliche Angreifer im Alter zwischen 16 und 19 Jahren sitzen seitdem in Untersuchungshaft in Berlin. Der Vierte konnte die Haft unter Auflagen verlassen.

Aufgrund der ausgesprochenen Brutalität des Vorgehens erregte der Fall bundesweit Aufmerksamkeit. Die Berliner Generalstaatsanwaltschaft ermittelt. In den vergangenen Monaten gab es eine Vielzahl ähnlicher Übergriffe auf Menschen, die sich offen für ein demokratisches Miteinander einsetzen. Jene sehen sich insbesondere im anstehenden Bundestagswahlkampf einem wachsenden Hass auf den Straßen ausgesetzt. Vor allem neu entstehende Vernetzungen junger Neonazis legen eine zunehmende Gewaltbereitschaft an den Tag.

Beim Übergriff am 14. Dezember war keiner der mutmaßlich am Angriff Beteiligten älter als 25 Jahre. Die neonazistischen Angreifer kamen größtenteils aus dem Großraum Halle-Leipzig nach Berlin. Als Gruppe waren sie auf dem Weg zu einem extrem rechten Aufmarsch in Friedrichshain und Lichtenberg. Auf ihren Profilen in den sozialen Medien präsentieren sich einige von ihnen als Mitglieder von »Deutsche Jugend Zuerst«. Was klingt wie eine feste Gruppe, ist vorwiegend aber ein Netzwerk auf virtuellen Plattformen wie Instagram oder Tiktok. Seit dem Frühsommer entstehen in der gesamten Bundesrepublik zahlreiche Zusammenschlüsse junger Neonazis nach einem ähnlichen Prinzip. Vorreiter hierfür war die Gruppe »Elblandrevolte« aus Dresden. Sie soll maßgeblich für den Überfall auf den SPD-Politiker Matthias Ecke im Mai 2024 in der Stadt verantwortlich sein. Erst vor wenigen Tagen wurde ein führendes Mitglied inhaftiert. Der 18-Jährige soll in Görlitz an einem brutalen Angriff auf eine Gruppe junger Menschen, darunter eine Kommunalpolitikerin der Linken, beteiligt gewesen sein.

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In Berlin sind die beiden neonazistischen Gruppen »Deutsche Jugend Voran« und »Jung & Stark« seit dem Spätsommer 2024 besonders präsent. Ihre Vernetzungen ähneln Freundeskreisen und sind kaum an bekannte Neonazi-Strukturen oder Parteien angebunden. Überwiegend junge Rechte werden von den Gruppen in sozialen Medien angesprochen. Hier finden sie schnell Gleichgesinnte und können in den digitalen Echokammern untereinander nahezu widerspruchslos agieren. Doch inzwischen versuchen diese Zusammenschlüsse zunehmend, ihre Dominanzansprüche auch über den virtuellen Raum hinaus geltend zu machen.

Besonders deutlich zeigte sich diese Entwicklung an den monatelangen queerfeindlichen Mobilisierungen im Sommer und Frühherbst des vergangenen Jahres. Wöchentlich riefen Neonazis zur Störung von »Christopher Street Day«-Veranstaltungen in unterschiedlichen Städten auf. Getragen wurde diese Welle an Hass gegen queere Selbstbestimmung maßgeblich vom Spektrum der neuen Netzwerke. So stellten Berliner Neonazis um »Deutsche Jugend Voran« bei den Protesten vielfach Megafone oder die Ordnungsstruktur, wie Anne Schönefeld vom Register Marzahn-Hellersdorf ausführt.

Schönfeld beobachtet rechte Aktivitäten im Bezirk, in dem gerade viele junge Neonazis sich vernetzen und häufiger in der Öffentlichkeit auftreten. Auf den queerfeindlichen Versammlungen konnten so auch kleinere Gruppen, die aus unterschiedlichen Teilen der Bundesrepublik zusammenkamen, durch ein geballtes Auftreten ein Bedrohungsszenario produzieren. Diese Strategie der Raumnahme wurde später auch gegen andere Gruppen angewendet, etwa bei einem antifaschistischen Gedenken im sächsischen Hohenstein-Ernstthal im Oktober oder zwei Wochen später bei einem Aufmarsch gegen eine feministische Demonstration in Marzahn. Obwohl die Neonazi-Gegendemo mit 150 Teilnehmenden nur eine geringe Mobilisierungskraft entfaltete, kam es in zeitlicher und räumlicher Nähe zu mehreren Übergriffen, unter anderem auf Journalist*innen. Bereits in den Monaten zuvor gab es im Bezirk verstärkt Angriffe gegen Antifaschist*innen aus dem Umfeld der jugendlichen Neonazi-Netzwerke.

Auch in Lichterfelde sollen die Neonazis das SPD-Wahlkampfteam wegen der zugeschriebenen politischen Einstellung attackiert haben. Als beide Gruppen am Kranoldplatz auf einen Bus warteten, sollen die Angegriffenen zuerst als »linke Zecken« bezeichnet worden sein. Im Anschluss kam es zu dem Gewaltausbruch. Dabei wirkte das Vorgehen der Neonazis trotz ihres Alters erschreckend koordiniert. »Das haben die nicht zum ersten Mal gemacht«, schildert die betroffene SPD-Politikerin Carolyn Macmillan ihre Eindrücke in einem Interview mit dem »Spiegel«. So verweist der Angriff vom Dezember auf weitaus größere Probleme, wie Anne Schönfeld ausführt: »In den neonazistischen Jugendgruppen entsteht ein Milieu, das bereit ist, Gewalt als zentrales Mittel der politischen Auseinandersetzung einzusetzen. Angriffe erfolgen so fast schon wahllos, was die Gefahren für potenziell Betroffene enorm erhöht und Prävention erschwert.«

»Angriffe erfolgen fast schon wahllos, was die Gefahren für potenziell Betroffene enorm erhöht.«

Anne Schönfeld
Register Marzahn-Hellersdorf

Auch das Vorgehen der Berliner Ermittlungsbehörden wirkt im Angesicht dieser neu entstandenen Bedrohungslage eher hilflos. Einerseits betont die Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg (CDU) in einer Pressemitteilung zu den Hausdurchsuchungen im Dezember, dass mit Nachdruck auf die Bedrohung der »Grundpfeiler unseres Rechtsstaates« zu antworten sei. Andererseits konnten einige Neonazis nach dem Übergriff in Lichterfelde ungehindert am extrem rechten Aufmarsch in Friedrichshain teilnehmen. Gleichzeitig räumte die Berliner Polizei mehrere friedliche Sitzblockaden, damit die knapp 100 Teilnehmenden loslaufen konnten.

Schon im Oktober beim Aufmarsch in Marzahn wirkte das polizeiliche Handeln gegenüber den Neonazis ähnlich inkonsequent. So konnte die extrem rechte Versammlung stundenlang mehrere hundert Meter hinter der feministischen Demonstration laufen. Zudem entfernten sich immer wieder Teilnehmende aus dem Aufzug, um im Umfeld Übergriffe zu begehen. Mit einer solchen Politik der ausgestreckten Hand gegenüber extrem rechten Versammlungen eröffnen die Behörden den beteiligten Neonazis neue Räume. Diese Entwicklungen lassen sich mit strafrechtlichen Maßnahmen nur schwer wieder einfangen. So kam es in Berlin und Brandenburg bereits im Oktober zu mehreren Hausdurchsuchungen im Umfeld von »Deutsche Jugend Voran«. Ein Neonazi aus diesem Kreis sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Die meisten anderen machen jedoch weiter und traten beispielsweise am 14. Dezember als Ordner auf.

Mit dem Motto »Gegen Linksextremismus« wirkte der Aufmarsch in Friedrichshain wie die ideologische Blaupause für die vorangegangenen Übergriffe. Als Sprecher tat sich ein ehemaliger Jung-Politiker der AfD aus Aachen hervor. Obwohl er inzwischen aus der Partei ausgetreten ist, verfügt er noch über gute Kontakte zur »Jungen Alternative« in Nordrhein-Westfalen. Darüber hinaus zeigen antifaschistische Recherchen von »Monitor Berlin«, dass sich die zentralen Akteure hinter der Demonstration womöglich auf einer aus Bundesmittteln finanzierten Berlinfahrt kennengelernt haben. Initiiert wurde diese von Matthias Helferich. Der Abgeordnete ist Mitglied der AfD, aber aufgrund seiner extrem rechten Ansichten nicht Teil der Fraktion im Bundestag. Das Aufkommen und das zunehmend gewalttätige Auftreten der neuen Netzwerke neonazistischer Jugendlicher findet nicht im luftleeren Raum statt. Die Grundlage ist eine Gesellschaft, in der rechte und extrem rechte Positionen zunehmend Gehör finden und Raum bekommen.

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