Kulturhauptstadt: Chemnitz ist die Stadt der heimlichen Schrauber

»Entdecke das Verborgene«: Wie Chemnitz sich in wenigen Tagen als Kulturhauptstadt Europas zeigen will

  • Hendrik Lasch, Chemnitz
  • Lesedauer: 8 Min.
Das Lichtkunstfestival »Light our Vision«, das auch das Karl-Marx-Monument verfremdete, bot einen Vorgeschmack darauf, wie sich Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas präsentieren will.
Das Lichtkunstfestival »Light our Vision«, das auch das Karl-Marx-Monument verfremdete, bot einen Vorgeschmack darauf, wie sich Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas präsentieren will.

In einem quietschgrünen Regal liegt die verchromte Klinke eines Pkw Trabant. Daneben: Steckschlüssel, Abzieher und anderes Werkzeug für die Autoreparatur, dazu Messgeräte und Zündkerzen, aber auch eine Mundharmonika vom VIII. Pioniertreffen in Karl-Marx-Stadt im Jahr 1988 und ein gebündelter Jahrgang der Zeitschrift »Fußballwoche«, kurz Fuwo. Es sind Gegenstände, die der 1982 geborene Fotograf und Architekt Martin Maleschka in Chemnitzer Garagen eingesammelt hat. Er hat daraus eine Installation geschaffen, die seit einigen Wochen im Chemnitzer Fahrzeugmuseum gezeigt wird. Das hat seinen Sitz in einer 1928 erbauten Hochgarage: außen eine elegante Fassade im Stil der Neuen Sachlichkeit, innen ein einstmals hochmoderner Fahrstuhl, mit dem die abzustellenden Autos auf mehrere Etagen verteilt wurden. In diesem hat Maleschka nun mehrere Regale aufgestellt und die Fundstücke aus den Garagen sortiert. Weil er Künstler und kein Autoschrauber ist, habe er ästhetische Kriterien angelegt, sagt er. Die Gegenstände in den grünen Regalen vertreten »das gesamte Farbspektrum von Silber über Grau bis Anthrazit«, alle andersfarbigen Fundstücke – Putzschwämme, Pappschachteln, Plastikdosen – hat er auf ein schwarzes Regal sortiert.

Die Installation namens »Ersatzteillager« ist Teil des Projekts »3000 Garagen«, das wiederum ein zentrales Element des Chemnitzer Programms als Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2025 sein wird. Dass Garagen etwas mit Kultur zu tun haben sollten, habe anfangs nicht zuletzt bei deren Besitzern und Nutzern für Kopfschütteln und Unverständnis gesorgt, sagt Agnieszka Kubicka-Dzieduszycka, die Kuratorin von »3000 Garagen« ist und am Abend der Eröffnung in einer blauen Schlosserjacke neben Maleschkas Installation steht: »Als wir in den Garagenhöfen ankamen und um Leihgaben baten, schlug uns viel Skepsis entgegen.« Kultur allerdings, sagt sie, »beginnt überall dort, wo sich Menschen treffen und um ihre Umgebung kümmern«. In den rund 30 000 Chemnitzer Garagen, von denen viele in mehr als 150 großen Garagenhöfen stehen, sei das der Fall. Sie seien oft »gemeinschaftlich und in Eigenleistung erbaut worden«, der Zusammenhalt sei oft über die Jahrzehnte bis heute gepflegt worden: »Das ist eine Form von Alltagskultur.«

Wenn sich Chemnitz ab dem 18. Januar als europäische Kulturhauptstadt präsentiert, wird es eine Vielzahl unterschiedlichster Veranstaltungen geben. Insgesamt seien es mehr als 1000, sagt Stefan Schmidtke, Programmgeschäftsführer der Gesellschaft, die im Auftrag der Stadt das Hauptstadtjahr organisiert. Was genau geplant ist, wissen die Chemnitzer und die Welt seit einer Show, die Ende Oktober vor Pressevertretern aus dem In- und Ausland in der Hartmannfabrik stattfand, der aufwändig sanierten letzten Werkhalle aus dem Imperium des Chemnitzer »Lokomotivkönigs« Richard Hartmann, der in der Gründerzeit ab Mitte des 19. Jahrhunderts einer der wichtigsten Industriellen der Stadt gewesen war.

In einem Parforceritt präsentierte Schmidtke dabei zwei Dutzend zentrale Projekte. Eines ist das Kunstfestival »Begehungen«, dessen 2025-er Jahrgang zeitgenössische Kunst in das bisherige Heizkraftwerk Nord bringt. Dessen markanter, über 300 Meter hohe Schornstein, den der französische Künstler Daniel Buren im Jahr 2013 mit sieben farbigen Bauchbinden versah, gehört zu den architektonischen Dominanten der Stadt. Rauch steigt daraus nicht mehr auf, seit der örtliche Energieversorger Anfang 2024 den vorzeitigen Kohleausstieg vollzog. Nun sollen sich in dem bisherigen Kraftwerk 21 internationale Künstler mit Themen wie Klimawandel und Ressourcenverlust auseinandersetzen, sagt Mitorganisatorin Claudia Tittel.

Ein anderes Projekt ist der »Purple Path«, der Kunstinstallationen in 38 kleinere Orte vor allem im Erzgebirge bringt. Er soll illustrieren, wie eng die Stadt mit der einst vom Bergbau geprägten Region verflochten ist. Im knapp 6000 Einwohner zählenden Jahnsdorf etwa steht seit dem vergangenen Sommer eine der verspielt-mäandernden »Gemeinschaftsbänke« des dänischen Bildhauers Jeppe Hein. Von »Kunst mit Alltagswert« spricht der Bürgermeister Albrecht Spindler.

Worum es den Chemnitzern in ihrem Kulturhauptstadtjahr geht, lässt sich indes womöglich an keinem Projekt so beispielhaft zeigen wie an den »3000 Garagen«. Die Stadt will zum einen Brücken in die östlichen Nachbarländer Polen und Tschechien schlagen und sich als Ort einer osteuropäischen Mentalität präsentieren: »Eastern State of Mind«, heißt eines der fünf Programmfelder. Garagen, sagt Kuratorin Kubicka-Dzieduszycka, seien ein Phänomen der einst sozialistischen Welt: »Im Westen musste keiner zehn Jahre auf ein Auto warten und sich dann Gedanken machen, wie er es gut geschützt abstellt und wo er es pflegen und reparieren kann.«

Zudem stellt sich Chemnitz seinen Besuchern als Stadt der »Macher« vor, der Tüftler und Bastler. Schon in den Zeiten von Richard Hartmann galt Chemnitz, das auch »sächsisches Manchester« genannt wurde, als Hort von Erfindergeist und Fleiß. In der DDR war die Stadt, die zeitweise mehr als 300 000 Einwohner zählte und von 1953 bis 1990 den Namen Karl-Marx-Stadt trug, Zentrum des Maschinenbaus und der Textilindustrie. Der Schraubergeist und die Do-it-yourself-Mentalität leben bis heute in den Garagen fort, in denen längst nicht mehr nur an Mopeds und Autos geschraubt wird.

Darüber hinaus versinnbildlichen die Garagen auch die Transformation, die sich in der Stadt mit brachialer Wucht vollzogen hat und bis heute vollzieht. Mit dem Ende der DDR brachen die zuvor dominierenden Industriezweige weitgehend zusammen, Tausende Arbeitsplätze gingen verloren. Von einstigen Großbetrieben wie dem VEB Wirkmaschinenbau mit seinem markanten Uhrenturm blieben schick sanierte Immobilien, in denen es Tagungszentren, Ausstellungsräume und Kaffeeröstereien gibt, aber kaum Jobs. Zu den heute dominierenden Branchen zählt die Automobilindustrie, die aber gleichfalls vor einschneidenden Umbrüchen steht. Das VW-Motorenwerk bangt angesichts der Kahlschlagpläne des Konzerns und des Abschieds vom Verbrenner um seinen Fortbestand. Einem Wandel unterlägen auch die Garagen, sagt Kuratorin Kubicka-Dzieduszycka. Angesichts immer dickerer Autos seien sie als Abstellplatz für den fahrbaren Untersatz kaum noch geeignet. Vielerorts überlegte man sich deshalb neue Nutzungen. In Osteuropa beherbergen Garagen mittlerweile Frisörsalons oder Fitnessstudios. Aber auch in Chemnitz ist der Wandel in vollem Gange.

Was sich genau hinter den Garagentoren abspielt, ist freilich weitgehend unbekannt, und das führt ins Zentrum der Chemnitzer Kulturhauptstadt-Pläne. Dafür hat die Stadt das Motto »C the Unseen« geprägt. »C« ist zum einen das von Kfz-Kennzeichen bekannte Kürzel des Stadtnamens. Englisch ausgesprochen, wird daraus indes »see«, also »sehen«. Der Slogan lädt damit sinngemäß ein, das bisher Unentdeckte, Unerwartete oder Verborgene zu entdecken.

Bisher recht unentdeckt ist auch Chemnitz selbst. Obwohl es in der Stadt Attraktionen gibt wie die international renommierten Städtischen Kunstsammlungen oder den einzigartigen »Versteinerten Wald« mit 290 Millionen Jahre alten Baumstämmen, gilt sie bisher allenfalls als Geheimtipp. Zwar sei Sachsen das beliebteste deutsche Bundesland für Kulturtourismus, erklärte die zuständige sächsische Ministerin Barbara Klepsch (CDU) in der Hartmannfabrik. Kulturtouristen strömen bisher im Freistaat aber überwiegend nach Dresden, Leipzig oder Görlitz. Auch nicht wenige der Journalisten, die zur Programmvorstellung anreisten, waren zum ersten Mal überhaupt in der Stadt.

»Kultur beginnt überall dort, wo sich Menschen treffen und um ihre Umgebung kümmern.«

Agnieszka Kubicka-Dzieduszycka Kuratorin

Einen Ruf als »graue Maus« hat Chemnitz freilich nicht nur bei Auswärtigen. Die Stadt neigt auch selbst dazu, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen und sich unter Wert zu verkaufen. Als sie im Jahr 2020 als vierte deutsche Stadt seit »Erfindung« des Konzepts vor knapp 40 Jahren den Zuschlag als Kulturhauptstadt Europas erhielt, verblüffte das nicht zuletzt viele der Einheimischen, die gern neidvoll auf die barocke Pracht der Landeshauptstadt Dresden schauen und ihre eigene Stadt für weit weniger sehenswert halten. Deren historisches Zentrum wurde bei alliierten Luftangriffen im März 1945 tatsächlich weitgehend zerstört. Allerdings gilt die sozialistische Innenstadtbebauung der 1970er Jahre rund um das Karl-Marx-Monument und das frühere Hotel Kongress heute als sehenswertes Zeugnis der Ost-Moderne; zudem gibt es weitere Attraktionen wie die von Henry van de Velde erbaute Jugendstilvilla des Strumpffabrikanten Herbert Eugen Esche oder das von Erich Mendelssohn entworfene Kaufhaus Schocken, das heute das Archäologiemuseum »smac« beherbergt.

Der Stolz darauf ist bei vielen Chemnitzern allerdings bisher nicht sonderlich ausgeprägt. Dass manche ihre Herkunft sogar schamhaft verschweigen, liegt nicht zuletzt an 2018. Die Jahreszahl ist zur Chiffre für rechte Aufmärsche und ausländerfeindliche Ausschreitungen geworden, die sich in der Stadt nach dem gewaltsamen Tod eines Stadtfestbesuchers ereigneten. Die tagelangen, teils gewalttätigen Demonstrationen verhalfen Chemnitz zu internationalen Schlagzeilen und unerwünschter Bekanntheit. Weil die Stadt zudem über Jahre einer der Zufluchtsorte des Terrortrios Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) war, gilt sie vielen als rechte Hochburg. Im Stadtrat, der im Juni 2024 gewählt wurde, stellen AfD und Freie Sachsen, die jeweils als rechtsextrem eingestuft werden, zusammen fast ein Drittel der Abgeordneten. Für dieses Jahr gibt es Ankündigungen der rechtsextremen Szene, das Kulturhauptstadtjahr zu stören. Engagierte Bürger wie die Musikerin Sabine Kühnrich finden das eine »unerträgliche Vorstellung«. Sie gehört zu den Mitinitiatoren eines »Demokratie-Stützpunkts« im Rahmen der Kulturhauptstadt und wünscht sich »kreative Gegenstrategien und ein buntes Stadtbild«.

Dass sich Chemnitz bunt, überraschend und kreativ präsentiert und so in der Wahrnehmung vieler Besucher vom hässlichen Entlein zum attraktiven Schwan wird, hofft auch Oberbürgermeister Sven Schulze. »Wir wollen zeigen, dass wir uns nicht verstecken müssen«, sagt der SPD-Politiker und freut sich darauf, dass »Menschen den Weg hierher finden, die sonst nie gekommen wären«. Mit zwei Millionen Besuchern rechnen die Organisatoren der Kulturhauptstadt. Überzeugt werden sollen aber auch die Einheimischen. Man wolle sich als »Stadt und Region zeigen, auf die wir selbst mit Stolz und andere mit Respekt schauen«, sagt der Rathauschef.

Stolz entwickeln manche Chemnitzer schon jetzt, beobachtet Agnieszka Kubicka-Dzieduszycka. Sie und ihre Mitarbeiter haben in den Garagenhöfen nicht nur Leihgaben für Martin Maleschkas Installation gesammelt, sondern auch Lesungen, Filmvorführungen und Konzerte veranstaltet. Für nächstes Jahr planen sie unter anderem eine Ausstellung mit Fotografien von Maria Sturm sowie einen »Garagenparcours« und weitere Konzerte. All das hat quasi nebenbei das Selbstbewusstsein der Garagenbesitzer geschärft. »Manche der älteren Herren kommen jetzt zu mir und sagen: Wir sind ein Kulturgut«, sagt die Kuratorin und lacht: »Das zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind.«

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.