»Zauberberg 2«: Therapiesitzungen und Kotzschaum

In seinem neuen Roman »Zauberberg 2« zeichnet Heinz Strunk ein Panorama der Tristesse und verwandelt es in Komik

Menschen, die eine Birne essen wie ein Bagger in einem Steinbruch vorankommt. Das ist das Metier Strunks.
Menschen, die eine Birne essen wie ein Bagger in einem Steinbruch vorankommt. Das ist das Metier Strunks.

Herrn Heidbrink geht es nicht gut: Schlaflosigkeit, Niedergeschlagenheit, Unbehagen angesichts des Gesamtzustands der Welt, unheilvolle Verknotungen im Denkapparat. Man kennt das. Deswegen hat er beschlossen, einen Monat in einer Klinik an der Ostsee zuzubringen. »Ausreden gelten nicht, sind verboten. Er wird das durchziehen.«

Schon auf der Hinfahrt mit dem Auto wird klar: Den Klinikaufenthalt hat er nötig. »Sein Gesicht im Rückspiegel: kein schöner Anblick. Ein Pseudointellektueller, Kindergreis, Woody Allen junior, fahl, käsig, kränklich, die Augen rot und verschwommen.« Jonas Heidbrink, Mitte 30, Beruf Privatier. Arbeiten wird er nie mehr müssen in seinem Leben: Sein erfolgreiches Start-up hat er verkauft, finanziell hat er ausgesorgt.

Viele derer, die Strunk hier als Romanpersonal auffährt, sind nicht Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten, sondern gesellschaftlich konforme Kotzbrocken und angepasste Mitläufertypen.

In der Privatklinik, in die er sich zur Rundumbehandlung begibt, wird er einen geregelten Tagesablauf haben: Gesundheitschecks, Therapiesitzungen, Gesprächsgruppen, verschiedene Kurse. Frühstück, Mittagessen, Abendbrot. »Vitalwerte, Suppe und Langeweile.« Kosten: 823 Euro pro Tag. Und er, der »Selbstzahler mit Luxusproblemen«, wird auf seine Mitpatienten treffen, die natürlich allesamt skurrile Figuren sind, zumindest aus dem Blickwinkel Heidbrinks betrachtet.

Der Komiker und Schriftsteller Heinz Strunk, der mittlerweile einen recht hohen Ausstoß an Prosa hat – alle paar Monate erscheint von ihm ein neuer Roman oder Erzählungsband –, hat wie immer Vergnügen an der Beschreibung des Grotesken. Das Unvollkommene, Missgestaltete, Schiefe, Peinliche am Mitmenschen scheint ihn am meisten zu faszinieren. Und daraus extrahiert er auch einen Gutteil der seiner Prosa innewohnenden Tragikomik. Ein literarisches Verfahren, das ihm zuweilen als misanthropisch ausgelegt wird.

Wiederholt ist Strunk auch vorgeworfen worden, seine Erzählungen zögen ihren Witz aus Misogynie und dem bösen Blick auf intellektuell und sozial benachteiligte Menschen. Doch das ist wohl eine eindimensionale Lesart. Verabsolutierte man sie, müsste man künftig jeden Satz, der heute in der Tradition einer Ästhetik des Hässlichen formuliert wird, darauf abklopfen, ob er möglicherweise irgendjemandes »Gefühle verletzt«.

Viele derer, die Strunk hier als Romanpersonal auffährt, sind nicht Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten, sondern gesellschaftlich konforme Kotzbrocken und angepasste Mitläufertypen, geistig auf Basisniveau hängen gebliebene Durchschnittstrottel, Exekutoren der hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse, Kalendersprüche und Glückskeksweisheiten von sich gebende Laberbacken, redende Ideologiebehälter. Über die natürlich gelacht werden darf.

Heidbrink, aus dessen Perspektive hier erzählt wird und der die Funktion des Beobachters und Urteilenden innehat, sieht entsprechend seine Mitpatienten als menschliche Karikaturen: Sie würgen, husten, sabbern, spucken, furzen, und auch darüber hinaus treten Flüssigkeiten aus ihnen aus. Einer hat »den Kopf gesenkt und lässt eine lange Speichelschnur aus dem Mund baumeln«. Ein anderer ist »ein Mann ohne Ideen, ohne Ausstrahlung und Anziehungskraft«, der sich allerdings, wie viele Männer aus der Mittel- und Oberklasse, selbst für den Größten zu halten scheint. Wieder ein anderer, dessen Gesicht aussieht »wie eine vertrocknete, überreife Paprika«, verströmt einen »modrigen Opageruch nach Nikotin, Staub und verkleckertem Essen«. Bei einer der Frauen sind die »Augen in den Höhlen versunken, die Tränensäcke wie geschmolzenes Kerzenwachs«. Eine andere ist »Tag und Nacht ihren versteinerten Leiden ausgeliefert, deren Gewicht ihren Mund in einer ewigen Abwärtsbewegung fixiert hat«.

Keiner von ihnen ist in der Lage, halbwegs vernünftig zu essen: Der eine beispielsweise, der »das größte Salatblatt, das Heidbrink je gesehen hat«, zu sich nehmen will, »stopft es sich im Ganzen in den Mund und nimmt dabei die Finger zu Hilfe. Sein dicker Schildkrötenhals vibriert, als würgte er Fische aus.« 50 Seiten später werden wir Zeuge, wie ein »eiförmiger Vollbartglatzkopf« anfängt, »krachend, berstend, knackend eine Birne zu fressen. Bei jedem Haps sperrt er das Maul sperrangelweit auf (…) Es klingt, als fräße er Geröll, ein Bagger, der sich durch einen Steinbruch beißt.«

Wobei Heidbrink, der zwischenzeitlich »Zweifel an der Echtheit und Bedeutsamkeit seiner eigenen Leiden« hegt, sich gar nicht ausnimmt aus dem Reigen der von ihm beobachteten erbärmlichen Hanswurstfiguren und sich sogar selbst im Verdacht hat, ein Simulant beziehungsweise »lediglich ein an allgemeinem Lebensüberdruss laborierender Wichser« zu sein.

Doch nicht allein die Patienten sind es, deren Lebensuntüchtigkeit hier bloßgestellt wird und die unter dem Schwinden der Vitalität, Krankheiten, dem Altern und dem Verfall des Körpers zu leiden haben. Die ihnen gegenübergestellten Figuren sind auf andere Art lächerlich und grotesk. Beängstigend gesunde Mustermänner mit stählernem Willen, die direkt aus der Zahnpastareklame zu kommen scheinen: »Herr Rolff dürfte locker über siebzig sein (…) beweglich bis zum Abwinken, einer, der noch mit achtzig in den Spagat gehen wird, der sich durch eiserne Disziplin eine jugendliche Figur erhalten hat. Seine Augen funkeln.«

Wer von Strunks neuem Roman eine Handlung im althergebrachten Sinn verlangt, wird möglicherweise enttäuscht werden. Über weite Strecken geschieht hier nichts Besonderes. Heidbrink lässt seinen Klinikalltag Revue passieren und ergeht sich in Selbstbeobachtungen und seinen Studien, die er über die ihn umgebenden Patienten anstellt. Dazwischen streut Strunk immer mal wieder einen seiner Strunk-Sätze, die ihm leicht von der Hand zu gehen scheinen: »Rasch bildet sich auf dem Waldboden eine schillernde Sickergrube mit Fäkaliengischt und fettigem Kotzschaum.«

Der dreiste Titel, »Zauberberg 2«, ist natürlich reine Koketterie und Tongue-in-Cheek-Humor beziehungsweise Ergebnis Strunk’scher Quatschmacherei, gleichzeitig aber auch gelungenes Marketing: Im Jahr des 100. Geburtstags des vom Lieblingsschriftsteller des bürgerlichen deutschen Feuilletons verfassten Jahrhundertromans einen Roman auf den Markt zu werfen, der sich den Anschein gibt, er sei die Fortsetzung besagten Werkes, ist ein treffend platzierter Gag.

Doch abgesehen davon, dass die materiell sorgenfreien männlichen Hauptfiguren beider Romane einen Aufenthalt in einem abgelegenen exklusiven Sanatorium absolvieren – Hans Castorp in den Schweizer Bergen, Jonas Heidbrink an der Ostsee in Vorpommern – und auf extrem unterschiedliche Weise die thematischen Leitmotive »Krankheit« und »Verfall/Niedergang« literarisch bearbeitet werden, haben die zwei Werke nichts gemeinsam. Zwar gibt es eine Handvoll kleinere Anspielungen, und ein aus »Zauberberg«-Zitaten zusammencollagiertes Kapitel wurde eingefügt. Doch weder ist der lakonische, unbekümmerte, teils ins Alberne spielende Erzählsound Strunks mit dem philosophische Tiefenbohrungen anstellenden, ironiegesättigten, opulenten Breitwandprosastil Manns vergleichbar, noch spielen die Themen, die Thomas Mann in seinem 1924 erschienenen »Zauberberg« verhandelte (die Liebe, das Mysterium der Zeit, der Tod, der Gegensatz zwischen Kunst und Leben, die Schopenhauer’sche Philosophie), bei Strunk eine Rolle.

Dessen Spezialität als Autor ist vielmehr die Kunst, ein Panorama vollständiger Tristesse zu zeichnen und es gleichzeitig in Komik zu verwandeln. Er schildert uns das Elend der bürgerlichen Existenz in der Gegenwart. »Im Grunde sind sie alle in einer psychiatrischen Klinik falsch untergebracht; es ist eher die Welt draußen, die eine Therapie nötig hätte« (Die Zeit).

Heinz Strunk: »Zauberberg 2«. Rowohlt 2024, 288 S., geb., 25 €.

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