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- Film »We live in Time«
Die unerträgliche Zeitlosigkeit der Erinnerung
In »We Live in Time« erzählt Regisseur John Crowley beinahe kitschfrei die Geschichte einer tragischen Liebe
Warum nicht das neue Jahr mit einem traurig-schönen Film über die Liebe beginnen? Mit einem raffiniert konstruierten Drama, das zutiefst zu berühren weiß, aber niemals in den Kitsch abgleitet? Und zudem mit zwei herausragenden Schauspieler*innen besetzt ist: Da wäre zum einen Florence Pugh, die sowohl in Greta Gerwigs »Little Woman«, als auch in dem Marvel Action-Film »Black Widow« oder zuletzt in Dennis Villeneuves »Dune: Part Two« brillierte. Ihr Spielpartner ist »Amazing Spiderman«- Darsteller Andrew Garfield, auch bekannt aus dem großartigen Musicalfilm »Tick, Tick...Boom!«.
Die romantische Tragödie von John Crowley erzählt von Almut und Tobias, die sich ineinander verlieben, heiraten, ein Kind bekommen – bis Almut zum zweiten Mal eine Krebsdiagnose erhält. Filme, die eine ähnlich tragische Liebesgeschichte erzählen, gibt es bereits zuhauf, man denke nur an den 55 Jahre alten Klassiker »Love Story« oder »P.S. Ich Liebe Dich« mit Hilary Swank und Gerald Butler oder das Teenie-Drama »Das Schicksal ist ein mieser Verräter«, bei dem man mehrere Päckchen Taschentücher griffbereit halten musste.
»We live in Time«, der auf dem Drehbuch des britischen Dramatikers Nick Payne beruht, ist jedoch – wie auch Crowleys Filme »Boy A« und seine misslungene Verfilmung »Der Distelfink« nicht chronologisch erzählt, sondern springt scheinbar unvermittelt zwischen drei Zeitebenen hin und her. Hin- und hergerissen zwischen der Leichtigkeit und Schwere des Seins stiehlt sich zwar ab und an eine Freuden- oder Kummerträne ins Auge des Zuschauers – doch rührselig wird es nie.
Wir erleben zehn viel zu kurze Jahre im Leben eines bezaubernden Paares. Schon früh im Film stellt die selbstbestimmte Almut ihrem Liebsten, nachdem sie erfahren hat, dass ihr Eierstockkrebs zurückgekehrt ist, die entscheidende Frage: "Wollen wir noch sechs großartige Monate miteinander erleben oder zwölf beschissene?"
Die ehrgeizige Köchin und Restaurantbesitzerin, die in ihrem Job aufgeht und viel Freiraum braucht und der sanfte Tobias finden eine Antwort auf diese schicksalsschwere Frage. Gemeinsam scheinen sie die Unerbittlichkeit der Zeit aus den Angeln zu heben.
Hautnah und scheinbar wild durcheinander erlebt man die entscheidenden Momente ihres gemeinsamen Lebens: Der Abend ihres ungewöhnlichen Kennenlernens, an dem Tobias loszieht, um einen Stift zum Unterschreiben seiner Scheidungspapiere zu besorgen und Almut ihn mit ihrem Wagen anfährt. Wie die erneut an Eierstockkrebs erkrankte Almut sich im Beisein ihrer gemeinsamen Tochter von Tobias den Kopf rasieren lässt. Ihr schwieriger Entscheidungsprozess für oder gegen Kinder. Wie Almut heimlich nach ihrer zweiten Diagnose für den anstrengenden Bocuse-d’Or-Wettbewerb übt, weil sie nicht nur als Mutter und Partnerin in Erinnerung bleiben will. (Man merkt, dass Pugh eine ambitionierte Hobbyköchin ist, die auch eine Kochshow auf Youtube hat.) Wie Almut in einer unglaublich realistischen Szene, die auch eines gewissen Humors nicht entbehrt, in der Toilette einer Tankstelle ihr gemeinsames Kind zur Welt bringt. Wie sie gemeinsam versuchen, ihrer kleinen Tochter kindgerecht beizubringen, was mit Mami los ist. Auch die metaphorisch geniale, zutiefst berührende Sequenz in der die ehemalige Profi-Eiskunstläuferin ein letztes Mal mit ihrer kleinen Familie Schlittschuh fährt, brennt sich ins Gedächtnis ein, als hätte man sie selbst oder zumindest ein enger Freund so erlebt.
Das Konzept des irischen Theater- und Filmregisseurs Crowley, der 2015 bereits mit seinem Liebesdrama »Brooklyn« für mehrere Oscars nominiert war, geht auf. Zwar wirkt das Springen zwischen den Zeitebenen zu Beginn recht planlos und verwirrend, doch durch die non-lineare Erzählweise werden wir daran erinnert, dass ein Leben und eine Liebe nicht mit dem Tod zu Ende gehen muss. Auch Almut quält sich völlig unnötig mit dem Gedanken, vergessen zu werden.
Pugh und Garfield verleihen jedem ihrer gemeinsamen Momente eine unglaubliche Präsenz und Authentizität. Dabei steht Garfield vor der schweren Aufgabe, dass seine Rolle nicht genügend ausgearbeitet ist. So bekommt der stets besonnene Tobias im Gegensatz zu Pugh zum Beispiel einen Marketing-Job in einer Müslifirma angedichtet, für den er nicht gerade brennt. Dennoch ist die Chemie zwischen diesen beiden Hauptdarsteller*innen so phänomenal, dass man leicht darüber hinwegsehen kann.
Der Soundtrack von Bryce Dessner spiegelt die Emotionen, die Kameraführung von Stuart Bentley ist großartig. Am Ende fügen sich auch vermeintlich schwächere Puzzleteile zu einem bedeutungsvollen Ganzen zusammen. Ein noch lange nachhallender Film über die unerträgliche Zeitlosigkeit der Erinnerung: Niemand weiß, wie viel Zeit jedem Einzelnen von uns auf diesem Planeten gegeben ist. Liebe auf Augenhöhe, größtmögliche Aufrichtigkeit gegenüber dem Partner und der Versuch, jeden flüchtigen Moment voll zu erleben, sind bestimmt keine schlechte Idee.
»We Live in Time«: Frankreich/Großbritannien 2024, Regie: John Crowley. Mit: Andrew Garfield, Florence Pugh, Lee Braithwaite. 108 Minuten, Start: 9.1.
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