Der Frosch im Kochtopf

Jens Berger macht die skandalöse Ungerechtigkeit in Deutschland sichtbar

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Wem gehört Deutschland? Dem Volk, den Parlamentariern und Politikern oder den Superreichen und deren Lobbyisten?
Wem gehört Deutschland? Dem Volk, den Parlamentariern und Politikern oder den Superreichen und deren Lobbyisten?

Man sieht die Reichen bestenfalls in der »Gala«, wenn sie in Designerklamotten auf irgendeiner Festivität posieren. Aber sind das wirklich die Superreichen oder nur die »Promis«? Wie die Armen einst zu ihren Königen und Fürsten aufschauten, tun es viele auch heute. Besser gesagt, indem sie diejenigen, die sich an ihnen auf skandalöse Weise bereichern, zu »Promis« machen, spenden sie ihnen gar noch Applaus. Welche perfide manipulative Absicht: Der Grundkonflikt in diesem Lande verschwindet hinter bunten Fotos.

»Deutschland weiß zwar fast alles über seine Armen, die statistisch gründlich durchleuchtet werden. Über seine Reichen weiß Deutschland jedoch so gut wie gar nichts«, urteilt Jens Berger. »Die Behörden erfassen keine statistischen Daten zum Reichtum, sämtliche Daten zu Vermögensverhältnissen sind Verschlusssache. Wer sich diesen Fragen nähern will, muss schon Detektivarbeit aufbringen.« Gerade das hat der Autor des Buches »Wem gehört Deutschland?« getan.

»Pflichtlektüre für Denker« wurde es in der »Frankfurter Rundschau« genannt, als es 2014 erstmals herauskam und Furore machte. Jetzt ist der damalige Spiegel-Bestseller in einer vollkommen überarbeiteten Neuauflage erschienen. Der Text basiert also auf den neuesten Daten und bezieht auch die Folgen der Corona-Pandemie und des Krieges in der Ukraine mit ein.

Was Krise genannt und von der Mehrheit der Bevölkerung auch so erlebt wird, hat den Umverteilungsprozess von unten nach oben nur beschleunigt. Jens Berger belegt das mit Zahlen, wie er überhaupt viel Mühe darauf verwendet hat, die Dynamik von Reichtum und Armut durch Fakten vor Augen zu führen, die man in der Zusammenschau wohl nur in diesem Buch findet. Denn es ist im Machtinteresse, sie auszublenden.

Ja, Reichtum und Macht gehören im Kapitalismus zusammen, auch wenn sich das System einen mehr oder weniger demokratischen Anstrich gibt. Hemmungslose Bereicherung der weithin unsichtbaren Oberschicht ist kein ärgerlicher Nebeneffekt, sondern Zweck des Ganzen. Wobei zur kapitalistischen Ausbeutung hinzukommt, wie der Staat in vielerlei Hinsicht Kosten den Steuerzahlern aufbürdet und Gewinne nicht antastet. Das galt auch in Corona-Zeiten: »Der Steuerzahler hat die Forschung finanziert, die Gewinne daraus werden privatisiert.« Wenn Sie wissen wollen, wie hoch diese Gewinne waren, und immer schon am deutschen Lockdown-Kurs gezweifelt haben, sollten Sie dieses Buch lesen.

Auch wer vermutet, dass es am Ukraine-Krieg Verdiener gibt, liegt nicht falsch. »Es ist eine Binse, dass sich auch mit dem Tod viel Geld verdienen lässt – besonders wenn man die Mordwerkzeuge verkauft.« Während Deutschland auf Steuerzahlerkosten Milliarden in die Rüstung steckt, klingeln bei den Rüstungsunternehmen die Kassen.

Gleichfalls für Umverteilung sorgten die Wirtschaftssanktionen. Indem die BRD den Bezug von russischem Röhrengas zugunsten teurer Flüssiggasimporte einstellte, wurde Russland nicht »in die Knie« gezwungen. Internationale Energiekonzerne haben blendende Geschäfte gemacht, wie im Einzelnen hier auch dargestellt. Dagegen sind »die durchschnittlichen Heizkosten für einen Haushalt mit einem Verbrauch von 20 000 Kilowattstunden Gas … von 1130 Euro im Jahr 2020 auf 3912 Euro im Jahr 2022 gestiegen. Die indirekten Mehrkosten durch die auf die Endkunden umgelegten Mehrkosten für Produkte und Dienstleistungen lassen sich zurzeit nur erahnen.«

Eine Menge überaus interessanter Hintergrundinformationen hat Jens Berger zusammengetragen, um die himmelschreiende Ungerechtigkeit in unserem Land anzuprangern. »Aktuell gibt es in Deutschland 117 Milliardäre, die auf ein Gesamtvermögen von 528,3 Milliarden US-Dollar kommen. Die sechs reichsten unter ihnen besitzen mit 158,5 Milliarden US-Dollar in etwa so viel wie die untersten 40 Prozent der Bevölkerung zusammen, also 34 Millionen Menschen. Und der Trend setzt sich fort … Seit 1997 verzichtet die Politik sogar freiwillig auf die Erhebung der Vermögenssteuer, die das deutsche Recht vorsieht.«

Warum wird über Mieten, Preise, Bildung und Renten diskutiert, nicht aber über die Vermögensverteilung? Weil das sozusagen eine »heilige Kuh« ist, die bei Strafe nicht angerührt werden darf. Jens Berger aber macht konkret, was in unserem Land verändert werden muss und könnte.

»Die Verteilungsfrage ist der Elefant im Raum: Sie ist übergroß und jeder sieht sie, doch niemand wagt es, dieses übergroße Problem anzusprechen oder gar anzugehen. Stattdessen lassen wir uns nur allzu gern von allen möglich Sachen triggern, verbringen unsere Zeit damit, auf Nebenkriegsschauplätzen virtuelle Scheingefechte zu führen, und merken dabei nicht, dass uns das Wasser bereits bis zum Halse steht und stetig steigt.«

Passend ist da der Vergleich mit dem sprichwörtlichen Frosch, den man in einen Kochtopf gesetzt hat und ihn kocht, indem man das Wasser langsam erhitzt. Gleichsam noch im warmen Wasser nehmen große Teile der Bevölkerung die Gefahren überhaupt nicht wahr. Und manche würden sogar eine Politik begrüßen, noch mehr Ärmere unter der Ungerechtigkeit leiden zu lassen, auf die sie dann herabblicken könnten, solange es sie nicht mit voller Gewalt selber trifft.

Jens Berger: Wem gehört Deutschland? Die Bilanz der letzten 10 Jahre: Vollkommen überarbeitete Neuauflage des Spiegel-Bestsellers. Westend, 268 S., br., 24 €.

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