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»Sing Sing«: Zu frei, um wahr zu sein
Der Kinofilm »Sing Sing« lässt einen Blick hinter amerikanische Gefängnismauern zu – und feiert die Kraft der Kunst
Alle, so viel ist klar, spielen ihre Rolle. Das gilt in jedem Bereich des Lebens. Dass die Verteilung der Rollen aber an einigen Orten strenger und eindeutiger geregelt ist als an anderen, leuchtet ein. Im Gefängnis etwa, wo sich nicht nur die Insassen benehmen wie Insassen und die Wärter wie Wärter, sondern wo sich auch die Gefangenen noch mal nach verschiedenen differenzierten Rollen unterscheiden lassen: die Reumütigen und die Kämpfenden, die Draufgänger und die Verschwiegenen etwa.
Greg Kwedars Spielfilm »Sing Sing«, benannt nach dem berühmten gleichnamigen Hochsicherheitsgefängnis in der Nähe von New York City, zeigt uns diese Rollen und in manchen Momenten auch die Spieler, die Menschen dahinter. Neben dem kaum abzulegenden Spiel im (Gefängnis-)Alltag sehen wir hier auch Schauspieler im eigentlichen Wortsinn: Die Gefangenen widmen sich dem Theaterspiel als resozialisierender Maßnahme.
Nach einem großzügig beklatschten »Sommernachtstraum« soll sich erneut ein Ensemble aus Häftlingen zusammenfinden, ein neues Stück gefunden werden. Im Mittelpunkt der Handlung steht John Whitfield (Colman Domingo), ein herzensguter Mann, der als Urgestein der Gefängnis-Theatergruppe auch selbst als Autor in Erscheinung tritt, sich juristisch bildet, um seinen Mithäftlingen und sich selbst helfen zu können, und der seiner Begnadigung harrt, bestreitet er doch jegliche Schuld an dem Mord, für den er einsitzt.
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Als in vielerlei Hinsicht konträrer Charakter ist Whitfield ein anderer Gefangener entgegengestellt: Clarence Maclin, der tatsächlich in Sing Sing inhaftiert war und unter seinem tatsächlichen Namen auf der Leinwand zu sehen ist. Maclin ist der »geborene« Gangster. Seine kriminellen Aktivitäten kommen auch in der Haft nicht zum Erliegen. Und nun findet sich dieser Mann plötzlich bei den angeleiteten Schauspielübungen wieder, soll tanzen, schreiben, Verse sprechen.
Whitfields Güte trifft auf Maclins Zynismus. An irgendeinem Punkt kommen diese so gegensätzlichen Typen im Spiel doch zueinander. Auch wenn es kaum danach aussieht, als Whitfields Drama, das eigentlich zur Aufführung kommen sollte, von Maclins Vorschlag ausgestochen wird, einen komödiantischen Szenenreigen mit Cowboys, Piraten, einem Monolog von Shakespeare und den alten Ägyptern auf die Bühne zu bringen. Trotz alledem: Die Kraft der Kunst wird in diesem Film in unbedingter Weise gefeiert. Und sie wird wohl weit überschätzt, möchte man anmerken – und man zögert doch, weil man sich kaum traut, sich über die Situation im Gefängnis, über das, was an diesem Ort Kraft spenden könnte, ein Urteil zu erlauben.
Ein Urteil fällt auch deswegen schwer, weil der Film eine besondere Authentizität beansprucht und beanspruchen möchte. Brent Buell, der am Drehbuch für »Sing Sing« beteiligt war, hat tatsächlich als Autor und Regisseur im Kunstprogramm des Gefängnisses gearbeitet. Nicht allein Clarence Maclin saß tatsächlich in Sing Sing ein und verkörpert nun sich selbst im Film. Am Ende werden zudem Videoausschnitte von realen Gefängnistheateraufführungen eingeblendet.
Irritiert von dem Gesehenen, mag man fragen: Ist die Realität derart versöhnlerisch? Und falls ja, kann ein Film es gleichermaßen sein? Aber die zweite Frage erübrigt sich vielleicht schon, wenn man die erste verneinen muss. Es ist kein Geheimnis, dass in US-amerikanischen Gefängnissen Menschen zugerichtet werden. Dass in Hochsicherheitsanstalten Menschen mit einem enormen Gewaltpotenzial sitzen, ist es genauso wenig. Ein bisschen guter Wille und die Kraft des Spiels sollen in »Sing Sing« ausreichen, damit sich am Ende alle in den Armen liegen. Die tragende Musik tut ihr Übriges, um das Gefängnissystem vor allem als ein emotionales und zwischenmenschliches Problemfeld erscheinen zu lassen.
So wie hier das Theater, sicher mit Recht, auch als therapeutisches Mittel präsentiert wird, um mit Extremsituation wie einem Gefängnisaufenthalt zurechtzukommen, so sehr drängt sich der Verdacht auf, dass »Sing Sing« selbst als Therapeutikum wirken sollen. Woran die Zivilisation krankt, wird im Film nicht gezeigt, ohne zugleich das vermeintliche Heilmittel und die Genesenen vorzuführen.
»Sing Sing«, USA 2023. Regie: Greg Kwedar; Buch: Greg Kwedar, Brent Buell und Clint Bentley. Mit: Colman Domingo, Clarence Maclin, Paul Raci und Sean San José. 107 Minuten.
Start: 27.2.
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