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Krise in Venezuela: Utopie in Trümmern

Tobias Lambert hat eine hervorragende Einführung in die jüngere Geschichte Venezuelas geschrieben

Wollte Venezuela fit machen für den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«: Hugo Chávez bei der Morgengymnastik am Strand von Rio de Janeiro, November 2004
Wollte Venezuela fit machen für den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«: Hugo Chávez bei der Morgengymnastik am Strand von Rio de Janeiro, November 2004

Als Hugo Chávez 1998 die venezolanischen Präsidentschaftswahlen gewann, dachte niemand daran, dass der südamerikanische Erdölstaat innerhalb weniger Jahre zu einem Hoffnungsträger der globalen Linken aufsteigen könnte. Das änderte sich erst, als das chavistische Reformprojekt nach zwei rechten Putschversuchen Fahrt aufnahm. Unter dem Label des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« legte der charismatische Revolutionsführer Sozialprogramme in den Armenvierteln auf, finanzierte Genossenschaften und selbstverwaltete Betriebe und orientierte die Außenpolitik seines Landes in Richtung einer Süd-Süd-Kooperation, wie es sie zuletzt mit der Blockfreien-Bewegung gegeben hatte. In aller Welt begannen Linke über Venezuela zu sprechen.

Doch schon zeigten sich die Probleme des Projekts. Zwar holte die chavistische Sozialpolitik Millionen Menschen vorübergehend aus der Armut, doch die Wirtschaftsprogramme verpufften. Agrarkooperativen zerfielen so schnell, wie sie gegründet worden waren, die selbstverwalteten Betriebe wurden zu Selbstbedienungsläden der Gewerkschaftsbürokratie. Vor allem aber gelang es Venezuela nicht, sich aus der Abhängigkeit vom Öl zu befreien. Die rasante Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes von 84 auf 482 Milliarden US-Dollar zwischen 2003 und 2014 beruhte allein auf Öleinnahmen, Import und Schulden. Mit dem Tod von Chávez 2013 und dem Einbruch der Weltmarktpreise für Erdöl ein Jahr später waren diese Probleme nicht mehr zu verschleiern. Das Land stürzte in eine fürchterliche Armutskrise, und Präsident Maduro rettete sich nur, indem er Venezuela in ein autoritär regiertes oligarchisches System verwandelte.

Der 1981 geborene Autor Tobias Lambert, den man ohne Übertreibung als einen der kompetentesten deutschsprachigen Autor*innen zu Lateinamerika bezeichnen kann, zeichnet diese Entwicklung in »Gescheiterte Utopie?« anschaulich und kenntnisreich nach. Auch wenn im Untertitel der Fokus auf die Zeit unter Präsident Maduro gelegt wird, handelt es sich bei dem Buch doch eigentlich um eine allgemeine Einführung in die venezolanische Geschichte. So zeichnet Lambert nach, wie die erste Nationalisierung des Erdöls 1976 nicht zur erhofften »zweiten Unabhängigkeit«, sondern zur Machterweiterung politischer Eliten führte. Er stellt die linken Gegenbewegungen der 60er und 70er Jahre vor und erklärt, wie es zum Massenaufstand 1989 kam, der für die »bolivarische Bewegung« von Hugo Chávez zum Ausgangspunkt wurde.

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Genauso klar strukturiert widmet sich Lambert denn auch der chavistischen Regierungsjahre. Das Buch analysiert, wie sich innenpolitische Machtkämpfe entwickelten und welche Reformprogramme dem »Bolivarismus« zu Anerkennung auch bei politischen Gegner*innen verhalfen. Bei dieser Darstellung setzt sich Lambert wohltuend von der Venezuela-Berichterstattung ab, wie sie einem ansonsten häufig begegnet. Weder macht er sich die Erzählungen der rechten Opposition zu eigen, noch übernimmt er die pseudosozialistische Rhetorik des Maduro-Lagers.

Wenn sich ein Einwand gegen »Gescheiterte Utopie?« vorbringen lässt, dann ist es wohl der, dass das eigentliche Thema zu kurz kommt. Bis Lambert bei seiner Hauptfrage angelangt ist – nämlich, wie sich das Projekt nach Chávez’ Tod entwickelte –, sind bereits 130 von 220 Seiten verstrichen. Dabei ist dieser Teil zweifelsohne der interessanteste im Buch. Lambert entwickelt hier in erster Linie eine politische Erklärung für die venezolanische Tragödie: Er erläutert, dass die Selbstverwaltung in Stadtteilen und Betrieben vom Staat kooptiert und die Basisdemokratie damit sofort wieder ausgehebelt worden sei. Es bleibe nichts anderes übrig, als erneut an jener Organisierung von unten anzuknüpfen, die es bereits vor Chávez in den Armenvierteln gab, die aber unter dem nicht-weißen Präsidenten enorm an Dynamik gewannen.

Lamberts Erklärung ist sicher nicht falsch, aber insofern ungenügend, als hier die ökonomischen Aspekte viel zu kurz kommen. Anders als man vermuten könnte, hat sich der Rohstoffreichtum für Venezuela nämlich eher als Fluch denn als Segen erwiesen. Dank der Öleinkommen ist über das vergangene Jahrhundert hinweg eine »Rentiers-Ökonomie« entstanden, in der nicht die Herstellung von Gütern, sondern der Zugriff auf die Öleinnahmen im Mittelpunkt aller Aktivitäten stand. Für Venezuelas Gesellschaft hat sich das als wahres Gift erwiesen. Die venezolanischen Massen begleiteten ihren Präsidenten bei der Umverteilung der Exporterlöse, aber nicht beim Umbau hin zu einer produktiveren, von kollektiver Verantwortung geprägten Gesellschaft.

Abgesehen von dieser Leerstelle ist Lamberts Buch jedoch eine hervorragende Einführung in das Land. Und auch seiner Einschätzung der aktuellen Lage ist kaum etwas hinzuzufügen. »Es droht«, resümiert er am Ende des Buches, »eine verstärkte Hinwendung zu autoritären Regimen und ein repressiver Kurs gegen regierungskritische Stimmen im Inneren. (…) Zudem stärkt Maduro im Zuge der Regierungsumstellung sowohl das Militär als auch wirtschaftsliberale Sektoren. Die chavistische Utopie scheint zumindest auf Regierungsebene in Trümmern zu liegen.«

Tobias Lambert: Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez. Mandelbaum-Verlag 238 S., br., 23 €.
Buchvorstellung in Berlin: 21.1., 19 Uhr, nd-Salon im FMP1, Franz-Mehring-Platz 1.

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