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Produzent statt Autor werden
Gilles Deleuze zum 100. Geburtstag: Für das Denken, gegen das Geschwätz
Der Philosoph Gilles Deleuze, der am 18. Januar vor 100 Jahren in Paris geboren wurde, veröffentlichte 1977 einen klugen, bösen Text zu den »Neuen Philosophen« – jenem als französische Denkschule kostümierten Haufen von Opportunisten, Ex-Maoisten, 68er-Renegaten und sonstigen liberalen Hampelmännern, zu denen Intellektuellendarsteller wie Alain Finkielkraut, André Glucksmann oder Bernard-Henri Lévy zählen.
Deleuze, der Anfang der 70er Jahre zusammen mit seinem Freund, dem Anti-Psychiater Félix Guattari, als Kritiker der Psychoanalyse (sowohl von Freud als auch von Lacan) bekannt geworden war, veröffentlichte seinen Text »A Propos Des Nouveaux Philosophes« als siebenseitige Beilage in der Literaturzeitschrift »Minuit« in der Form eines Interviews mit sich selbst. Darin attestierte er der »Nouvelle Philosophie«, sie sei nichts als »leeres Denken«. Warum, fragt er, konnte sie trotz dieser »Leere« einen so großen Erfolg haben? Weil das einzig wirklich »Neue« an jenen Philosophen ihr Medien-Marketing sei. Sie hätten sich an »die Konjunktur und den Markt optimal angepasst«, und damit hatten sie, wie sich heute hinzufügen lässt, nicht trotz, sondern wegen ihrer Leere Erfolg.
Die »Neuen Philosophen« traten insbesondere als Kritiker des Kommunismus auf. Das »Neue« an ihnen war, dass sie diesen nicht mehr hochleben lassen wollten, wie noch zuvor, als sie entweder im Umfeld der Kommunistischen Partei Frankreichs agierten oder diese links überholen wollten. Das gefiel nicht nur dem bürgerlichen Betrieb, sondern auch jenen Ex-Revolutionären, die dort nun Einlass begehrten, nachdem es mit der proletarischen Revolution in Frankreich offensichtlich nichts geworden war. Für Deleuze waren die neuen Philosophen ein bloßes Produkt des Journalismus, der, so Deleuze weiter, »sich selbst als ein autonomes und selbstgenügsames Denken« entdeckte.
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Inzwischen nutzen die »Neuen Philosophen« das Marketing nicht mehr, sondern werden von diesem geschaffen. Der Ruf des Marktes ergeht an seine Freiwilligen: Wer schreibt die dickeren Bücher, wer gibt die meisten Interviews, wer redet verständlicher? In der Folge, so Deleuze, gelte ein Buch letztlich weniger als der Zeitungsartikel, den man über das Buch schreibt: »Die Intellektuellen und Schriftsteller, sogar die Künstler sind also aufgefordert, Journalisten zu werden, wenn sie das Spiel mitspielen wollen. Es handelt sich um einen neuen Typ von Denken, das Interview-Denken, das Gesprächsdenken, das Schnelldenken« – das, wie man heute weiß, keines mehr ist. Die Beseitigung der Philosophie fand unter dem Deckmantel des Philosophischen statt: Der Begriff der »Neuen Philosophie« war prophetisch, es gibt heute fast keine andere mehr.
Was heute als Philosophie durchgeht, ist schlechter Kolumnismus und Klassenkampf von oben, und selbst das Denken, das in der Nachfolge Deleuzes zu stehen glaubt, ist davon geschlagen. Die »Neuen Philosophen« von Gnaden des Betriebs sind im besten Falle Philosophie-Philologen, ihre Bücher sind keine des Denkens, sondern bloß Bücher über Philosophie. Im schlimmsten Falle sind sie Aktivisten ihrer kümmerlichen persönlichen Interessen und das Buch nur ein Werbe-Gimmick zur Aktion: Sie denken nicht, sondern erzählen die Ergebnisse des Denkens anderer nur nach. Als Aktivisten fordern sie andere zum Denken auf, noch bevor sie selber damit anfangen. Auch Philosophie will heute nur mehr berichten – obwohl ihr Job das Begreifen und Begreiflichmachen wäre.
Die »neue« Philosophie ist letztlich Belletristik; sie sieht den Wald vor lauter Baum-Beschreibungen nicht, und wenn sie sich auf den Wald bezieht, dann berichtet sie von ihm wie ein Wanderer im Nebelmeer. Deleuze führte dagegen das Schöpferische an. Das »neue« Philosophieren verleihe den »Medien das Minimum an intellektueller Legitimation, um schöpferische Versuche zu ersticken, die sie sprengen würden. Je mehr kretinhafte Debatten im Fernsehen, je mehr kleine narzisstische Autorenfilme, desto weniger Schöpferisches ist im Fernsehen und anderswo möglich.«
Ganz im Geist von Brecht und Benjamin schlägt Deleuze vor, man solle sich »verweigern, Erfordernisse zur Geltung zu bringen«, und riet den Intellektuellen, »Produzenten zu werden, statt Autoren zu sein, die nur noch Anspruch auf die Unverschämtheit von Domestiken oder die Späße von Hofnarren haben«.
»Die Philosophie«, schrieb Deleuze anderswo, »ist nicht kommunikativ, sie ist auch nicht kontemplativ oder reflexiv: Sie ist schöpferisch oder sogar revolutionär, von Natur aus, da sie nicht aufhört, neue Begriffe zu schaffen. Einzige Bedingung ist, dass diese Begriffe eine Notwendigkeit haben, aber auch eine Fremdheit; und sie haben beide in dem Maße, wie sie eine Antwort auf wirkliche Probleme darstellen. Der Begriff hindert das Denken daran, zur bloßen Meinung, Ansicht, Diskussion, zum Geschwätz zu werden.«
Happy Birthday, Gilles Deleuze!
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