Eine App enthüllt massenweisen Mietwucher

Projekt der Linke-Gruppe im Bundestag weist Zehntausende Fälle von überhöhten Wohnkosten nach

Das deutsche Mietrecht krankt an vielen Stellen. Was könnten die Bundestagswahlen daran ändern?
Das deutsche Mietrecht krankt an vielen Stellen. Was könnten die Bundestagswahlen daran ändern?

Klick. Klick. Klick. Klick. Klick. Klick. Sechs Mausklicks, dann erscheint ein Text auf knallrotem Untergrund: »Deine Miete ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit überhöht und verstößt gegen § 5 Wirtschaftsstrafgesetz.« Und nun?

Vor elf Wochen veröffentlichte die Linke-Bundestags-Gruppe ihre Mietwucher-App, zunächst eingerichtet für die Städte Berlin, Leipzig, Hamburg und Freiburg. Einige Abfragen zu Nettokaltmiete, Wohnungsgröße und Baujahr ermöglichen Nutzer*innen eine erste Einschätzung: Zahlen sie zu viel für ihre Wohnung? Mieten ab 20 Prozent über dem jeweiligen Mietspiegel sind, laut Paragraf 5 Wirtschaftsstrafgesetz, überhöht; ab 50 Prozent könnten Vermieter*innen sogar eine Straftat begehen.

In einem weiteren Schritt können Nutzer*innen ihr Ergebnis an das zuständige Amt schicken und es dort prüfen lassen. Wollen sie ihren Anspruch auf eine Senkung der Miete sowie eine Rückzahlung der überhöhten Beträge durchsetzen, müssen sie allerdings belegen, dass ihre individuelle Situation bewusst ausgenutzt wurde. Das geht auf zwei Entscheide des Bundesgerichtshofs der 2000er Jahre zurück. Seitdem gibt es kaum mehr Verfahren zur Mietpreisüberhöhung.

»Mieterinnen und Mieter müssen beweisen, was sie eigentlich nicht beweisen können. Durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wurde die bis dahin funktionierende Vorschrift quasi ausgehebelt«, sagt Lukas Siebenkotten, Präsident des Deutschen Mieterbunds (DMB), dem »nd«. Dabei könnte eine stringentere Auslegung von Mietwucher auch Kommunen zugutekommen – beispielsweise könnten sie überhöhte Mieten von Bürgergeldhaushalten einsparen.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Im Februar 2024 befasste sich der Rechtsausschuss der Ampel-Regierung mit einer möglichen Gesetzesänderung. Damals kam die Anregung von der CSU, die Anhörung fand auf Antrag der Linken statt. Die FDP meldete verfassungsrechtliche Bedenken an und erklärte, keine weitere Rechtsänderung zu planen. Dabei stünde, wie der Jurist Kilian Wegener im Auftrag des DMB urteilte, einer Gesetzesänderung aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts im Wege.

Bedarf scheint jedenfalls zu bestehen. Die Mietwucher-App der Linken wurde in fast drei Monaten bundesweit mehr als 68 000 Mal genutzt. Dabei wurden mehr als 48 000 Fälle festgestellt, in denen die Miete um mehr als 20 Prozent überhöht ist. Bei der reichlichen Hälfte davon liegt die Überhöhung sogar bei über 50 Prozent gegenüber der ortsüblichen Vergleichsmiete. Etwa 2400 Nutzer*innen meldeten den jeweiligen Ämtern die überhöhten Mieten. In diesen Fällen wurde der Mietspiegel im Schnitt um mehr als 67 Prozent überschritten.

In Berlin wurde bei den gemeldeten Fällen eine durchschnittliche Überhöhung von 74 Prozent registriert, in München sogar 84 Prozent. In allen acht Städten, für die die Mietwucher-App mittlerweile konzipiert ist (hinzu kamen in einem zweiten Schritt neben München auch Dortmund, Erfurt und Hannover), hätten die Verdachtsmeldungen »rasant zugenommen«, heißt es aus dem Büro der wohnpolitischen Sprecherin der Linken, Caren Lay, gegenüber »nd«. So seien vor Start der App in Berlin 2024 bis Ende Oktober insgesamt 38 Verdachtsfälle gemeldet worden, seit Einführung der App im November fast 1200 Fälle. In Hamburg hatte es 2024 vor der App drei Fallmeldungen gegeben, seitdem 380.

Was das alles für Mieter*innen konkret bedeutet, macht eine erste Auswertung der Linken ebenfalls deutlich. Bei den mehr als 68 000 App-Nutzungen wurden in der Summe fast 14 Millionen Euro zu viel gezahlte Miete errechnet. Die 2400 an die zuständigen Ämter weitergeleiteten Fälle ergeben immer noch eine mögliche monatliche Gesamtersparnis von mehr als 600 000 Euro, also im Durchschnitt 250 Euro pro Haushalt. Laut Caren Lay gibt es inzwischen Anfragen aus mehr als 20 Städten, ebenfalls in die App aufgenommen zu werden. Die Linke will das Projekt in der nächsten Bundestags-Wahlperiode ausbauen.

»Jetzt müssen die Stadtverwaltungen aktiv werden, um überhöhte Mieten zu senken, so wie es Frankfurt am Main tut«, fordert Lay. Frankfurt, die Stadt mit den zweitteuersten Mieten Deutschlands, gilt als Vorzeigemodell bei der Verfolgung von Mietwucher. Es ist die einzige Stadt mit einer »Stabsstelle Mieterschutz«, die vor Spekulation und Entmietung schützen soll. Etwa 250 Fälle werden hier im Schnitt jährlich erfolgreich zugunsten der Mieter*innen zu Ende verhandelt, weitere enden in einem Vergleich.

»Der Mietwucher-Paragraf ist anwendbar. Dafür müssen Kommunen mutig sein.«

Cathrin Schneider Netzwerk Mietpreis

Laut Schätzungen sind bis zu 50 Prozent der Mieten in Frankfurt überhöht, so Cathrin Schneider, Koordinatorin des Netzwerks Mietpreis des Frankfurter Amtes für Wohnungswesen. Inzwischen treffe das nicht nur finanziell schwache Mieter*innen, sondern auch Normal- bis Gutverdienende. »Unser Beispiel zeigt: Der Mietwucher-Paragraf ist anwendbar. Dafür müssen Kommunen mutig sein«, sagte Schneider dem »nd«. Seit zwei Jahren berät die Stadt andere Regionen zur Verfolgung und Aufdeckung von Mietwucher.

Dieser ist jedoch längst nicht der einzige Bereich, in dem das deutsche Mietrecht krankt. Auch die Mietpreisbremse, die Mieten bei Neuvergaben begrenzen soll, läuft 2025 aus. Im Internet inserierte Angebotsmieten stiegen 2023 trotz der Mietpreisbremse bundesweit um 7,3 Prozent. Die SPD scheiterte mit ihrer Wohnungsbauoffensive bekanntlich kläglich. So verfehlte sie ihr Ziel, 2023 100 000 neue Sozialwohnungen zu bauen, um mehr als die Hälfte. Wohl auch deswegen setzt sie in ihrem neuen Wahlprogramm auf die Stärkung von Mieter*innenschutz, fordert die Verschärfung des Mietwucher-Paragrafen und will eine unbefristete Mietpreisbremse einführen. Ins gleiche Horn blasen die Grünen. Sie wollen außerdem Kündigungen wegen Eigenbedarf und Mietschulden verringern.

Die Linke, die Sozialpolitik zum Wahlkampfschwerpunkt auserkoren hat, plädiert dafür, den sozialen Wohnungsbau zu fördern und einen Mietendeckel einzuführen, der Mieterhöhungen für die nächsten sechs Jahre ausschließt. Den fordert auch das BSW, darüber hinaus kündigt es keine konkreten wohnpolitischen Maßnahmen an.

Dem gegenüber steht die CDU, deren Programm zufolge bezahlbares Wohnen »die neue Soziale Frage unserer Zeit« ist. Ihr Credo: »Um den Markt zu entspannen, hilft nur mehr Angebot.« Ergo: Mehr bauen für günstigere Mieten. Sie fordert neben niedrigeren Standards beim Bauen auch die leichtere Vergabe von Krediten und Abzüge von der Erbschaft- und Schenkungssteuer für energetische Sanierungen. Als Ergänzung zur Beteuerung, Deutschland sei ein Mieterland, findet sich nur ein Punkt – der soziale Wohnungsbau müsse solide gefördert und das Wohngeld regelmäßig angepasst werden.

Die FDP will Deutschland dagegen zur »Eigentümernation« machen. Sie steht für steuerliche Abschreibungen im Wohnungsbau, will »überflüssige Umweltgutachten« abschaffen, die Mietpreisbremse auslaufen lassen und einen Grunderwerbsteuerfreibetrag von 500 000 Euro für die erste selbst genutzte Immobilie. Ähnlich formuliert die AfD. Ihr schwebt ein »Volk von Eigentümern« vor. Wie dies erreicht werden soll, dazu findet sich in ihrem Programm wenig Konkretes. Im längsten Abschnitt des Wohnkapitels geht es um die Abschaffung von Windkraft, die das Heimatgefühl im Land zerstöre.

Der DMB plant jedenfalls, bei den künftigen Regierungsverhandlungen Druck zu machen, um den Mietwucher-Paragrafen wieder »geländegängig« zu machen, sagt Siebenkotten. Und: »Mieter und Mieterinnen brauchen ein paar Jahre ›Atempause‹, in denen die Mieten nicht steigen.«

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.