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Grüne: Rücktritt, Anzeigen und mutmaßlich erdachte Belästigungen

Innerparteilicher Skandal erschüttert die Grünen über den Pankower Kreisverband hinaus

Der Pankower Grünen-Politiker Stefan Gelbhaar streitet bisher alle Vorwürfe der sexuellen Belästigung ab.
Der Pankower Grünen-Politiker Stefan Gelbhaar streitet bisher alle Vorwürfe der sexuellen Belästigung ab.

Nachdem der Sender RBB am Freitag einen großen Teil seiner Berichterstattung zu den Belästigungsvorwürfen gegen den Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar (Grüne) zurückgezogen hatte, schlägt die Geschichte weiter Wellen. So legte am Samstag Shirin Kreße, Grünen-Fraktionschefin in der Bezirksverordneenversammlung von Berlin-Mitte, ihr Mandat nieder. Kreße erklärte sogleich ihren Austritt aus der Partei. Das berichtete zuerst der »Tagesspiegel«. Der RBB hat zudem eine grüne Bezirkspolitikerin angezeigt, wie der Sender selbst berichtet. Auch Gelbhaar hat eine Strafanzeige gestelllt, allerdings gegen unbekannt.

Bisher gibt es keine Belege, dass Rück- und Austritt von Kreße mit der jüngsten Wende in der Berichterstattung zusammenhängen. Eine öffentliche Stellungnahme von ihr gibt es nicht. Kreße wird dem linken Flügel ihrer Partei zugeordnet. Sie war unter anderem Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft Feminismus.

Ende Dezember hatte der RBB von konkreten Belästigungsvorwürfen gegen Stefan Gelbhaar berichtet, die seit spätestens Mitte Dezember kursierten. Grundlage seien laut dem Sender eidesstattliche Versicherungen von Frauen gewesen, mit denen man gesprochen habe. Darüber hinaus hätten dem Sender anonymisierte Meldungen an die Ombudsstelle der Grünen vorgelegen – eine Ombudsstelle »gegen sexualisierte Gewalt«, wie Werner Graf, Fraktionschef der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, gegenüber der »Taz« konkretisierte.

»Mit hoher Wahrscheinlichkeit existiert die Frau gar nicht.«

RBB

Zur Rücknahme der bisherigen Berichterstattung haben laut RBB insbesondere erhebliche Zweifel an der Identität einer telefonischen Hinweisgeberin, einer gewissen Anne K., beigetragen. Anne K. habe angegeben, sie sei von Gelbhaar zu einem Kuss gezwungen worden. Nun stünde aber fest, K. sei nicht die gewesen, für die sie sich ausgab. »Mit hoher Wahrscheinlichkeit existiert die Frau gar nicht«, erklärt der Sender. Weitere Recherchen hätten zu der vom RBB nicht namentlich genannten grünen Bezirkspolitikerin geführt, gegen die man Strafanzeige gestellt habe. Es stehe zweifelsfrei fest, dass sich die Bezirkspolitikerin »in Gesprächen dem RBB gegenüber als Anne K. ausgegeben hat und unter diesem Namen auch eine eidesstattliche Versicherung abgab«, so der RBB.

Die Grünen-Politikerin habe die vom RBB nun gegen sie gerichteten Vorwürfe jedoch bestritten. So habe sie dem Sender erklärt, lediglich den Kontakt zu Anne K. hergestellt zu haben. Allerdings, erklärt der RBB ferner, habe sie keine Belege vorbringen können, dass eine Anne K. überhaupt existiere. Damit seien nicht alle Vorwürfe nichtig, »ein wesentlicher Vorwurf aber schon«, begründet der Sender den Entschluss, die früheren Beiträge vom Netz zu nehmen. Alle anderen Vorwürfe, die im Raum stünden, hätten eine deutlich »geringere Fallhöhe«. Die Ombudsstelle der Grünen will die Überprüfung fortsetzen.

Die ursprüngliche Berichterstattung des RBB war von anderen Medien aufgegriffen worden, auch »nd« berichtete. Zu einer neuerlichen Überprüfung hat nach eigenen Angaben der »Tagesspiegel« beigetragen, der eine Anne K. über die in der eidesstattlichen Versicherung angegebene Meldeadresse im Melderegister nicht finden konnte. Auch vor Ort hätten sich keine Hinweise auf die Existenz einer Anne K. ergeben. Für den RBB sei Anne K. nicht mehr zu erreichen.

Auf eine Anfrage der Nachrichtenagentur dpa erklärte der Chefredakteur des RBB David Biesinger: »Uns ist als RBB in der Recherche ein Fehler unterlaufen. Journalistische Standards sind nicht vollumfänglich eingehalten worden.« Die Identitäten der Informationsgeber*innen seien nicht ausreichend geprüft worden. Mit betrügerischer Absicht, krimineller Energie und großem Aufwand sei dem Sender eine falsche Identität vorgespielt worden, sagte Biesinger.

Gelbhaar selbst streitet die Vorwürfe ab. Er erklärte, seinerseits eidesstattlich erklärte Zeugenaussagen vorweisen zu können, die ihn entlasten würden. Gegen ihn liegen bislang keine Anzeigen vor, erklärte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft der Nachrichtenagentur dpa.

Gelbhaar war zunächst mit 98,4 Prozent der Delegiertenstimmen zum Direktkandidaten der Pankower Grünen für den Bundestag gewählt worden. Nach Bekanntwerden der Vorwürfe hatte der Kreisverband die Wahl wiederholen lassen. Gelbhaar konnte sich hier nicht mehr gegen die Mitbewerberin Julia Schneider durchsetzen. Beide gelten als dem in Berlin unterrepräsentierten Realo-Flügel zugehörig. Die Pankower Grünen wollen an Schneider festhalten, hieß es noch am Samstag. Bereits Mitte Dezember hatte Gelbhaar nach Bekanntwerden der Vorwürfe seine Kandidatur für einen Listenplatz zurückgezogen. Ein Wiedereinzug in den Bundestag ist für den Verkehrspolitiker somit ausgeschlossen. Andreas Audretsch, Parteilinker und Wahlkampfmanager von Wirtschaftsminister und Kanzlerkandidat Robert Habeck, erlangte so ohne Konkurrenz den Listenplatz 2. Aufgrund der linken Dominanz im Berliner Landesverband galt ein Sieg Audetschs in einer zuvor angekündigten Kampfabstimmung gegen Gelbhaar aber als wahrscheinlich.

Die stellvertretende CDU-Generalsekretärin Christina Stumpp zog eine Verbindungslinie bis nach ganz oben. Der dpa sagte sie: »Die Grünen müssen jetzt für Transparenz und Aufklärung sorgen: Wie tief ist Andreas Audretsch in den Fall verstrickt – und was wusste Robert Habeck?« Stumpp sprach von einem »brutalen Hauen und Stechen in Habecks direktem Umfeld«. Audretsch selbst wies Vorwürfe zurück, wonach er Teil einer angeblichen Intrige gegen Gelbhaar gewesen sein soll. Er habe zu keinem Zeitpunkt Einfluss auf »Entscheidungen von Stefan Gelbhaar, des Kreisverbandes Pankow oder politischer Entscheidungsträger« genommen, erklärte Audretsch.

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