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Hochschulproteste in Berlin: »Ein Sieg aus dem Gemetzel heraus«
Der Historiker Tom Khaled Würdemann über den Nahost-Konflikt an den Hochschulen
Seit mehr als einem Jahr halten antiisraelische Proteste die Berliner Universitäten in Atem. Warum kristallisiert sich der Protest gerade an den Hochschulen?
Dass der Protest an den Hochschulen eine solche Dauerhaftigkeit entwickelt hat, liegt daran, dass sich dort die Menschen befinden, die am häufigsten in der Politik einen Lebenssinn finden und daran glauben, mit politischer Organisierung etwas ändern zu können. Teile davon haben Palästina aus verschiedenen Gründen zum großen Mobilisierungsthema erhoben. Palästina ist für sie der Kristallationspunkt des antiimperialistischen Kampfes, des wichtigsten linken Kampfes in einer imperial organisierten Welt. Der eigentliche Klassenkampf kann nach dieser Logik nur nach dem nationalen Befreiungskampf erfolgen. Das heißt auch, an den Hochschulen wird der Protest nicht von muslimischen, sondern von linken Menschen getragen.
Es fällt allerdings auf, dass der Hochschulprotest nicht von traditionell starken linken Gruppen aus dem parteipolitischen oder postautonomen Spektrum, sondern von trotzkistischen und maoistischen Splittergruppen dominiert wird, die sonst in der gesellschaftlichen Linken marginalisiert sind.
Viele etablierte linke Gruppen aus der israelsolidarischen Tradition passen inzwischen so gut mit der Staatsräson zusammen, dass der ursprüngliche Anspruch der radikalen Linken, gegen die herrschenden Verhältnisse zu kämpfen, nicht abgebildet wird. Beim Thema Nahost finden sie sich in einem politisch-medialen Konsens wieder, der nach rechts und links überraschend weit reicht. In diesem Kontext werden antiimperialistische Gruppen mit ihrer Unangepasstheit für die Studierenden wieder attraktiv.
Tom Khaled Würdemann ist Historiker. Er schreibt eine Dissertation zur palästinensischen Nationalbewegung an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. Er engagiert sich für Friedenslösungen im Nahost-Konflikt.
Die Besetzer an den Hochschulen stehen unter scharfer Kritik, weil sie sich nicht von der Hamas distanzieren wollen oder in Propagandamaterial das Massaker vom 7. Oktober 2023 feiern. Handelt es sich um Antisemiten?
Ich würde den Antisemitismus etwas weiter hintanstellen. Primär sind es antiimperialistische Proteste. Aber es gibt potenzielle Überschneidungen zwischen antiimperialistischen und antisemitischen Thesen. Dem Antisemitismus geht es um die Befreiung von jüdischer Unterdrückung. Dem Antiimperialismus dagegen um die Befreiung von Unterdrückung durch imperiale Staaten. Israel ist ein jüdischer Staat, der Unterdrückung ausübt, wie Nationalstaaten es nun mal tun. Wenn man dann keine vernünftige Antisemitismuskritik hat, fällt beides zusammen. Eine propalästinensische Gruppe an der FU hat zum Beispiel Ende 2023 eine Leseliste verbreitet, auf der auch ein klar antisemitisches Buch des arabischen Autors Constantin Zureik vertreten war. Eine bekannte Aktivistin hat in einem Instagram-Post den globalen Kapitalismus als Davidsstern, zusammengesetzt aus Konzernlogos, dargestellt. Wie soll man das nennen? Natürlich Antisemitismus. An zweiter Stelle würde ich sagen: Die Ideologie dieser Hamas-unterstützenden Gruppen ist auch dann, wenn sie keinen Antisemitismus im ideengeschichtlichen Sinne enthält, praktische Judenfeindlichkeit. Sie akzeptieren und unterstützen eine politische Bewegung, deren Handeln Massenmord an Juden bedeutet.
Können die Proteste der palästinensischen Sache denn helfen?
Palästina steht in der Ideologie dieser Gruppen für den globalen Kampf gegen den Imperialismus. Der reale Konflikt soll daher nicht pragmatisch gelöst werden. Sondern in ihm soll ein symbolischer Sieg über den »globalen Imperialismus« errungen werden. Deswegen sind Kompromisse ausgeschlossen. Ein Kompromiss für das Zusammenleben ist aber das, was die Menschen vor Ort brauchen. Dafür demonstrieren aber gerade die linken Gruppen an den Hochschulen oft nicht. Das ist haarsträubend, denn das wäre bitter nötig. Gegenüber der zum Teil in grauenerregende Kriegsbegeisterung verfallenen politisch-medialen Elite Deutschlands, wie auch gegenüber der ebenso grauenerregenden, Hamas-begeisterten Stimmung in der muslimischen Rechten in Deutschland.
Viele jüdische Studierende fühlen sich von den Protesten bedroht. Ist das berechtigt?
Jüdische Studierende sind nicht das Ziel der antiisraelischen Proteste. Sondern das, was die Protestierenden als israelsolidarischen Aktivismus ansehen. Das macht es aber erstens nicht akzeptabel. Und zweitens haben die meisten Juden in Deutschland eine enge Beziehung zu Israel. Daher ist es völlig nachvollziehbar, dass sie radikale, auf Zerstörung abzielende antiisraelische Proteste als Bedrohung für sich selbst wahrnehmen. Die Aggression richtet sich aber nicht unmittelbar gegen »die Juden«, was man auch daran sieht, wie zentral antizionistische Israelis für die Bewegung an den Berliner Hochschulen sind.
An den Universitäten haben sich auch proisraelische Gruppen gebildet, an der FU zum Beispiel »Fridays for Israel«. Wie sind sie einzuordnen?
Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie dieser Konflikt in Deutschland ausgehandelt wird. »Fridays for Israel« ist winzig, aber trotzdem nehmen dort mehr Spitzenpolitiker teil als an allen propalästinensischen Demonstrationen zusammengenommen. Die Bewegung ist also enorm elitenlastig. Letztlich spiegelt sich darin ironischerweise das Weltbild der Antizionisten: Die Straße gehört der Bewegung, aber die staatliche Macht unterstützt Israel. Da ist die antisemitische Lesart nicht weit: Die zionistische Clique steuert die staatliche Macht. Umgekehrt sehen Konservative auf der Straße den »migrantischen Schrott«, wie es »Welt«-Herausgeber Ulf Poschardt formulierte, den es im Namen der Zivilisation zu unterdrücken gilt. Was wiederum rassistischen Denkstrukturen ähnelt, für die die Unterstützung Israels die Stabilisierung bestehender Strukturen symbolisiert. Diese Dynamiken erzeugen eine gegenseitige Feedback-Spirale.
Am Mittwochabend ist ein Waffenstillstandsabkommen zwischen der Hamas und Israel geschlossen worden. Wie wird sich das auf die Protestbewegung an den Hochschulen auswirken?
Ich gehe davon aus, dass die Protestintensität abnehmen wird, wenn der Waffenstillstand hält. Dass die propalästinensische Bewegung an den Hochschulen ihren Pfad der Radikalisierung verlassen wird, bezweifle ich. Sie werden den Waffenstillstand als Sieg feiern. Damit stellen sie sich in die antiimperialistische Traditionslinie, dass ein Durchhalten im Kampf gegen den Unterdrücker auch bei großen eigenen Opfern einen Sieg darstellt, ähnlich wie in Algerien oder Vietnam. Für sie ist ein solcher »Sieg aus dem Gemetzel heraus« eine Etappe im Endkampf gegen die Unterdrückung.
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