Mareike Engelhardt: »Radikalisierung findet oft im Intimen statt«

In ihrem Debütfilm »Rabia« macht die Regisseurin Mareike Engelhardt die Grausamkeit der IS-Frauen spürbar – ein Gespräch

  • Interview: Susanne Gietl
  • Lesedauer: 5 Min.
Eine Reise zum IS nach Syrien – wie eine Klassenfahrt!
Eine Reise zum IS nach Syrien – wie eine Klassenfahrt!

Mit »Rabia« haben Sie ein sehr schwieriges Thema gewählt. Jessica (später Rabia) schließt sich gemeinsam mit einer Freundin dem IS an. Für einen Erstling ist das erstaunlich komplex.

Als Regisseurin hat man die Wahl: Entweder man erzählt eine persönliche Erfahrung oder das Erleben von anderen, in der die eigene Geschichte ein Echo hat. Damit nimmt man eine Form von politischer Verantwortung auf sich, die ich bei »Rabia« bewusst gewählt habe. Ich konnte nicht begreifen, wie junge Menschen zu Tausenden unsere Demokratien verlassen, um sich in Syrien dem IS anzuschließen. Wie konnten das unsere Länder zulassen, dass diese oft minderjährigen Jugendlichen in ein Kriegsland reisen? Die Jüngste war 14! Wie diese Frauen durch eine Kette von Ereignissen zu Täterinnen werden, ist die zentrale Frage des Films.

Jessica und ihre Freundin haben beide nicht viel Vorgeschichte. Man sieht sie kurz bei der Arbeit als Altenpflegerinnen und zu Hause, dann fliegen sie schon nach Syrien. Warum stellen Sie das Kinopublikum vor vollendete Tatsachen?

Wir wissen viel über die Männer, die nach Syrien gegangen sind, aber es gibt keinen Film, der zeigt, was die Frauen dort erwartet hat. Ich wollte mich daher einerseits auf diese Leerstelle konzentrieren, andererseits nicht in die Falle einer zu einfachen Antwort fallen. Denn die Motivation für diesen radikalen Schritt, den Jessica und ihre Freundin machen, war von Frau zu Frau sehr unterschiedlich. Und unglaublich vielfältig! Es wäre reduzierend, diese auf einen Grund herunterzubrechen. Beim Film werden leider oft solche Abkürzungen genommen, was die Realität banalisiert. Oft sind es Ketten von traumatischen Erlebnissen, die diese Frauen dazu bringen, zu entscheiden, sich so einer mörderischen Ideologie anzuschließen, die für sie oft erst mal eine Flucht darstellt aus einer Existenz, unter der sie leiden. Es geht im Grunde weder um die Religion noch um die politische Utopie, sondern um komplexe psychische Vorgänge, die die Frauen erst später oder nie verstehen. Ich habe daher beschlossen, im Film klare Antworten zu vermeiden und stattdessen mit verstreuten Hinweisen zu arbeiten.

Interview

Mareike Engelhardt wurde 1983 in Berlin geboren. Nach dem Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Psychologie in Berlin, London und Paris begann sie, Tänzer im New Yorker Underground zu filmen. Parallel dazu drehte sie erste Kurzfilme und lernte als Regieassistentin das Handwerk bei Katell Quillévéré, Patricia Mazuy, Roman Polanski sowie Volker Schlöndorff. Nach einem Drehbuchkurs an der berühmten französischen Filmhochschule La Fémis entwickelte sie ihren ersten Spielfilm »Rabia – Der verlorene Traum«.

Es findet in Ihrem Film auch keine politische oder religiöse Aufklärung statt. Hatten Sie das Gefühl, dass die Frauen damals in einer ähnlichen Situation waren?

Ja! Ich wollte ganz nah am Erleben dieser Frauen dranbleiben und dem Zuschauer dieselbe Erfahrung ermöglichen. Diese Frauen, die aus über hundert verschiedenen Ländern kamen, gingen wie Kolonialisten nach Syrien – häufig fast gänzlich ohne Kenntnisse des Landes, der Sprache oder des Korans. Im Namen eines Gottes, von dem sie so gut wie nichts wussten, vertrieben sie die syrischen Einwohner, zogen in die schönsten Häuser der Stadt und halfen ihren Männern, dort das Terrorregime umzusetzen. Wenn die Syrier auf der Straße Deutsch oder Französisch gehört haben, haben sie sofort an Terroristen gedacht – so wie einige hier an Terroristen denken, wenn sie auf der Straße Arabisch hören. Wir haben das Bedürfnis, den anderen aufgrund seiner Fremdheit für unsere Sicherheit zum Monster zu erklären. Tatsache ist, dass diese Monster unsere Kinder, Cousinen, Nachbarn waren und sich durch Hass und Angst formiert haben. Je unsicherer, unglücklicher und angstbesetzter die Menschen sind, desto mächtiger und attraktiver werden totalitäre Denksysteme. Diese instrumentalisieren diese Angst und machen Menschen zu Kampfmaschinen.

Trotzdem ist dieser neue Lebensabschnitt im Film anfangs positiv aufgeladen. Die Frauen kichern und unterhalten sich über zukünftige Ehemänner, als wären sie auf einer Klassenfahrt. Das wirkt befremdlich.

Die krasse Euphorie der Frauen bei ihrer Ankunft in Syrien steht in einem schockierenden Kontrast zum Horror des Krieges und ihrer Entscheidung, diesen zu unterstützen. Der IS hatte ein hochprofessionelles Rekrutierungssystem entwickelt, um junge Frauen meist über soziale Netzwerke zu radikalisieren. Für viele handelte es sich um ihre erste Reise in einem Flugzeug – auch noch zusammen mit ihren Freundinnen! Das war aufregender als jede Klassenfahrt. Noch dazu garantierte ihnen die Hijra – diese Reise ins Heilige Land – den direkten Zugang zum Paradies. In ihren Whatsapp-Gruppen wurden sie dafür wie Königinnen gefeiert, vor Ort wurden sie, wie in jeder sektenartigen Struktur als neues Familienmitglied gefeiert, bekamen Anerkennung, Aufmerksamkeit, Liebe.

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Im Film verweigert Jessica die Hochzeit und gerät in einen Machtkampf mit der Direktorin des Hauses, der sogenannten schwarzen Witwe, die das System der Madafas erfunden hat. Sie will die Mädchen zu perfekten Ehefrauen erziehen. Jessica wird zu »Rabia« und macht eine unerwartete Entwicklung durch. Warum passiert das?

Radikalisierung findet oft im Intimen durch eine bestimmte Autoritätsperson statt, die psychologische Bruchstellen ihres Gegenübers ausnutzt. Im Film versuche ich, nachzuzeichnen, wie man zum Täter wird. Viele dieser Frauen waren Opfer von sexuellen Gewalterfahrungen, und ihr Bezug zu ihrem eigenen Körper ist für mich ein Schlüssel zum Verständnis ihrer eigenen Gewaltausübung. Wenn jemandem früh der Körper weggenommen wird, beziehungsweise die Macht, die Kontrolle über den eigenen Körper genommen wird, ist es ein schon bekannter Mechanismus, diesen Körper einem Ehemann oder einer mächtigen Frau erneut zu unterwerfen. Das bereits erfahrene Trauma wird reproduziert. Diesmal jedoch bringt die erneute Unterwerfung mit sich, selbst Gewalt auszuüben zu können. Das fühlt sich wie eine berechtigte Rache für das eigene Leiden an und kann dadurch vor sich selbst gerechtfertigt werden.

»Rabia – Der verlorene Traum«: Frankreich, Deutschland, Belgien 2024. Regie: Mareike Engelhardt, Buch: Mareike Engelhardt, Samuel Doux. Mit: Megan Northam, Lubna Azabal, Natacha Krief, Klara Wördemann, Maria Wördemann, Lena Lauzemis, Andranic Manet, Lena Urzendowsky. 94 Min. Kinostart 23. Januar.

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