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Zurück zu den Wurzeln

Die Ginsengwurzel hinterlässt ausgezehrtes Land und Leben: Der Comic-Künstler Craig Thompson hat beides untersucht

  • Maximilian Schäffer
  • Lesedauer: 4 Min.
Er ist tatsächlich wieder da.
Er ist tatsächlich wieder da.

In Marathon, Wisconsin, einem Kaff von tausend Seelen, irgendwo zentral im ruralen Nirgendwo einer fruchtbaren Provinz, weit weg vom Lake Michigan und fern den Großstädten Green Bay und Milwaukee, verbringt Craig Thompson seine Kindheit. Freudlosigkeit und harte Arbeit sind für die Familie nicht nur aus finanziellen Gründen ihr oberstes Gebot. Nicht unzüchtig mit Urlaub und Langeweile vertrödeln die Kinder ihre Ferien. Nein, jeden Tag geht es mit den Eltern auf die Felder, wie in der guten alten Zeit der christlichen Siedler. In Marathon werden aber nicht Roggen und Hirse zur Selbstversorgung angebaut, sondern Amerikanischer Ginseng (Panax quinquefolius). Der ist als Exportware eine der teuersten Wurzeln der Welt. Ginseng ist die Trüffel unter den Wurzeldrogen, während der Ingwer auf dieser Erde nur ein Champignon ist.

Craig Thompson löste 2003 Pulitzer-Preisträger Art Spiegelmann (»Maus«) als Aushängeschild unter den seriösen Comiczeichnern ab – mit seinem Durchbruchswerk »Blankets«. In zwanzig Sprachen übersetzt, Hunderttausende Male verkauft, beschäftigte er sich darin mit seinem eigenen Lebensweg. Es ging ums Aufwachsen im streng religiösen Umfeld der Zeugen Jehovas, um gewalttätige Eltern, um verklemmte Sexualität und den Abfall vom Glauben. Oft ist der Weg das Ziel und der Prozess selbst die eigentliche Findung: In »Ginsengwurzeln«, das nun auf Deutsch im Berliner Reprodukt-Verlag erschienen ist, verarbeitet ein Mann auf knapp 500 gezeichneten Seiten seine zweite Lebenskrise. Es ist die säkulare Version seiner eigenen Wiedererzählung und gleichzeitig ihre Fortsetzung.

Während andere sich also in Disneyland vergnügen, wühlen der zwölfjährige Craig, sein Bruder Phil und seine Schwester Sarah im Dreck. Wenigstens den Hungerlohn ihrer Kinderarbeit dürfen sie teilweise behalten. Craig investiert in Comics – die einzige Fantasieflucht, die ihm in zartem Alter gelassen wird. 35 Jahre später sieht sich Thompson erneut mit seinem Trauma konfrontiert. Wir schreiben das Jahr 2019: Nach dem Welterfolg von »Blankets« folgen für den Autor kommerzielle Flops, seit vier Jahren hat er nun nichts veröffentlicht. Nicht nur sein Geist wehrt sich gegen ein neues Projekt, auch die Hand zeigt Symptome der Abnutzung. Eine mysteriöse Form der Arthrose krümmt seine Finger. Liegt es am seelischen Stress oder an der Pestizidbelastung aus der Kindheit? Thompson muss erneut zurück zu seinen Wurzeln, zu den »Ginsengwurzeln«, die ihn zum Mann und Künstler machten.

Es gibt heute, mit erhöhtem Aufkommen seit ungefähr zehn Jahren, unzählige Graphic Novels über historische Begebenheiten, meist mehr schlecht als recht erzählt. Fleißarbeiten, die über den investigativen Ansatz eines Wikipedia-Artikels nicht hinauskommen. Hübsche Bilder und Sprechblasen, die Geschichte und Geschichten aus ihrer offensichtlichsten, unverfänglichsten Position heraus kommentieren. Es gibt sie über Anastasia von Russland genauso wie es sie über David Bowie gibt. Es gibt sie über den Mauerfall wie es sie über den Holocaust gibt.

Solche Comics bedanken sich bei den Schlagwörtern und verkaufen sich. Auch Thompson kommt in seinen Recherchen allzu oft über das »Gefühlige« eines Amateurreporters nicht hinaus. Den Kosmos des Ginsengs beleuchtet er aus allen möglichen Positionen – kulturell, geografisch, geopolitisch, kolonialistisch, individuell. Ganze Kapitel schweifen ab, bleiben als gezeichnete Realpoesie für sich stehen. Einmal geht es um das Schicksal der Hmong im Vietnamkrieg, einer laotischen Ethnie, die im Ginsengland die Mehrheit der Feldarbeiter stellt. Dann reist Thompson nach China und nach Südkorea und findet sich »lost in translation«. Über den Ginseng als wirtschaftlichen und ökologischen Faktor gibt es viel zu erzählen – zu Wort kommen Erzeuger und Konsumenten.

Des Ginsengs Kultivierung ist kompliziert, lernen wir. In künstlich beschatteten Riesengärten wächst er als Feldfrucht nur einmal und hinterlässt ein ausgezehrtes Land. Mystische und evidente Heilkräfte werden den Wurzeln zugeschrieben, ihre anthropomorphe Form erinnert den Menschen an sein Spiegelbild. Es geht um Medizin, auch die traditionell-chinesische und ihre Methoden. Und vor allem geht es immer um die Menschen, die überall etwas mehr oder weniger Qualifiziertes zu sagen haben und irgendwie über den ganzen Erdball hinweg mit dieser Knolle verbunden sind.

Craig Thompson reist um die Welt, sucht sich selbst und findet im Konglomerat der Fragen viele kleine Antworten. Dennoch gönnt er dem Leser kein Resümee. Wer mitdenkt, aber nicht streng denkt, findet in diesem riesigen, überwältigend gestalteten Buch viel Schönheit und Sinn. In der Summe seiner im Sande verlaufenden Spuren bekommt der Leser nämlich viel mehr als nur eine Reportage, die sich wie ihre Gattungsgenossen ständig in unerklärlichen Oberflächlichkeiten verfängt.

Craig Thompson: Ginsengwurzeln. A. d.Engl. v. Matthias Wieland. Reprodukt, 456 S., geb., 39 €.

Thompson muss erneut zurück zu seinen Wurzeln, zu den »Ginsengwurzeln«, die ihn zum Mann und Künstler machten.

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