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Auch dies war Massenmord
Die NS-»Euthanasie«-Geschädigten sind erst sehr spät als NS-Opfergruppe anerkannt worden. Eine Anerkennung als »Verfolgte« steht bis heute aus
Ihre Urgroßmutter wurde 1941 in Hadamar ermordet, sie war Opfer der »Aktion T4«. Diese Opfer sind eine oft übersehene Gruppe. In Ihrer Familie gibt es aber ein Gedenken.
Ja, das liegt vor allem an meiner Großmutter. Sie war 28 Jahre alt, als ihre Mutter vergast wurde, und auch schon 1945 hellsichtig genug, um zu erkennen, dass das ein Mord gewesen ist. Ihr Engagement für die Opfer der Vernichtungsaktionen hat sich in den späten 80ern intensiviert, da kamen mehrere Faktoren zusammen: Sie ging in Rente und hatte entsprechend mehr Zeit, außerdem fand ab 1986 der Prozess gegen die Tötungsärzte Ullrich, Endruweit und Bunke statt, den sie sehr intensiv verfolgt hat. Sie hat viel dokumentiert und wurde mit Gründung des Bunds der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten 1987 sehr aktiv.
Sie sind 1977 geboren und führen die Erinnerungsarbeit Ihrer Großmutter jetzt weiter …
Ja, das ist typisch, es ist meistens das älteste Kind oder Enkelkind, das diese Art des Erinnerns fortträgt. Häufig sind es allerdings Frauen.
Wie wird Ihr Engagement in Ihrer Familie gesehen?
Da gibt es sozusagen zwei familiäre Stränge: Der eine, sehr rechts, verdrängt und verleugnet das Thema. Im zweiten, sozusagen meinem Strang, gibt es ein großes Bewusstsein für das Thema. Ich habe Interviews mit der dritten und vierten Generation geführt, und ausnahmslos alle wussten von klein auf, dass es ein NS-Opfer in der Familie gibt. Das ist auch bei mir so. Ich kann nicht sagen, wann dieses Bewusstsein entstand – ich bin mit diesem Wissen aufgewachsen.
Andreas Hechler ist 1977 in West-Berlin geboren und aufgewachsen, studierte Europäische Ethnologie und Gender Studies und war viele Jahre in der Erwachsenenbildung, Prozessbegleitung, Evaluation und geschlechterreflektierten Pädagogik tätig. Weitere Informationen zu seinen Arbeitsbereichen finden sich unter: www.andreashechler.com
Ich stelle mir das schwierig vor: Es gibt für einige Opfergruppen keinen Platz im Erinnerungsdiskurs.
Ja, viele NS-Verfolgte wurden bewusst ignoriert und gegeneinander ausgespielt und die Bundesrepublik hat stets auf die biologische Lösung, also ihr Ableben, gesetzt. Die NS-»Euthanasie«-Geschädigten sind erst sehr spät als NS-Opfergruppe anerkannt worden, nämlich 1988. Eine Anerkennung als »Verfolgte« steht bis heute aus. Die würde sowohl eine volle rechtliche Anerkennung beinhalten als auch Ansprüche im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes ermöglichen. In ähnlicher Weise trifft das auf die Zwangssterilisierten, die als homosexuell, »Berufsverbrecher« oder »asozial« Verfolgten und viele weitere zu. Jenseits davon kommen die genannten Verfolgtengruppen aber auch in aller Regel nicht im Erinnerungsdiskurs vor, weder im offiziellen noch im privat-familiären.
Sie sprechen von verschiedenen Vernichtungsaktionen. Mir scheint, dass sich das Gedenken in erster Linie auf die »Aktion T4« konzentriert.
Das ist so, und das ist ein Problem. Ich denke, das liegt an der Symbolik der Gaskammern. Es gab neben der »Aktion T4« aber auch die sogenannte Kindereuthanasie, die systematische Tötung von Psychiatrie-Insass*innen in den eroberten Ostgebieten mit Beginn des Zweiten Weltkrieges, und es gab nach der »Aktion T4« die »Aktion Brandt«, in deren Rahmen das Morden dezentral mit Nahrungsentzug, Vernachlässigung und Totspritzen weiterging. Für meine Begriffe sollte man allen dieser Opfer gedenken.
Passiert das auch?
Es gibt Gedenkstätten vor allem dort, wo im Rahmen der »Aktion T4« vergast wurde. Bei den Zwischenanstalten und anderen Kliniken, in denen gemordet wurde, ist das Gedenken sehr unterschiedlich – von gar nichts über einen Gedenkstein bis hin zu Ausstellungen. Die meisten der T4-Gedenkstätten sind im Übrigen bis heute Psychiatrien. Da kann man noch heute vor einem Schilderbaum stehen und links zeigt ein Schild zur Physio, rechts zur ehemaligen Gaskammer. Ich weiß auch nicht, wie man an einem solchen Ort gesund werden soll. Das ist wohl auch eine Konsequenz daraus, dass das Gedenken – sofern es stattfindet – vor allem aus der Täter*innengruppe kam und kommt: Mediziner*innen und Pflegepersonal. In der Geschichte der Gedenkstättengründungen gab es einen expliziten Ausschluss behinderter Menschen, immer mit der Begründung, das Thema sei für sie »zu überfordernd«. Die Gedenkstätte in Hadamar hat sich da als Erstes geöffnet und zum Beispiel in Kooperation mit dem Verein »Mensch zuerst« Führungen entwickelt, die von psychisch beeinträchtigten Menschen geleitet werden. Das hat die Perspektive von Besucher*innen stark beeinflusst. Zum Beispiel wurde die Garage, in denen die Menschen in grauen Bussen ankamen, um dann durch Gas ermordet zu werden, bis dahin fast ausschließlich von außen fotografiert. Als auch Menschen, die damals vergast worden wären, durch das Gelände geführt wurden, gab es immer mehr Fotos von innerhalb dieser Garage. Daran sieht man, wie wichtig dieser Perspektivwechsel ist: Es gibt eine viel stärkere Identifikation.
Trotzdem werden heutige Morde und Gewalttaten an Behinderten immer unter »private Tragödie« verhandelt.
Ableistischer Massenmord unterscheidet sich in der Regel von beispielsweise rassistischen Amokläufen dadurch, dass sich bei Ersterem typischerweise Täter*in und Opfer schon lange kennen und die Gewalttat dort stattfindet, wo es ableistische Strukturen gibt: also in Heimen, Kliniken und Anstalten, also »zu Hause« oder am Arbeitsort. Es gibt kein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass diese Institutionen potenziell gefährlich sind, und das hat auch mit der mangelhaften Aufarbeitung nach 1945 zu tun. In der Erlangener Heil- und Pflegeanstalt wurde kürzlich das Hungerhaus abgerissen, in denen während der zweiten Phase etwa 1000 Menschen umgebracht wurden. Überbaut wird es mit einem Gebäude der Max-Planck-Gesellschaft, deren Vorläufergesellschaft maßgeblich an NS-Medizinverbrechen beteiligt war. Das Gebäude der Mediziner*innen und Verwaltung blieb als einziger authentischer Ort stehen. All das ist sinnbildlich: Der Täter*innenort bleibt, der Ort der Opfer wird vernichtet und durch eine Organisation mit NS-Täter*innengeschichte überbaut. Man muss dazu noch sagen, dass die Medizin bis heute von den Erkenntnissen profitiert, die durch die Forschung an ermordeten Menschen gewonnen wurden, nicht zuletzt in der Hirnforschung. Dafür gibt es kaum gesellschaftliches Bewusstsein.
Wenn wir auf die gesellschaftlichen Debatten blicken, sehen wir eine deutliche Verschärfung ableistischer Tendenzen.
Ja, der Firnis der Zivilisation ist sehr dünn. Das wurde auch während der Corona-Pandemie deutlich, in der wir in Windeseile eine Triage-Diskussion hatten. Die aktuelle Sterbehilfedebatte ist dafür auch ein gutes Beispiel: Dass da völlig losgelöst von der deutschen Geschichte vom »Recht auf den Tod« geredet wird, ist gefährlich. Und zwar auch in der gesellschaftlichen Linken, die eigentlich wissen sollte, dass diese Gesellschaft geradezu erpicht darauf ist, Menschen umzubringen, ob in der Sahara oder im Mittelmeer.
Ich habe auch nicht den Eindruck, dass aus der Politik viele Impulse kommen, um die Erinnerungsarbeit zu intensivieren.
Die Bundesregierung hat sich im Dezember 2023 selbst ein Zeugnis bezüglich der NS-»Euthanasie«-Opfer ausgestellt: »Aus erinnerungskultureller Sicht ist die Anerkennung dieser Opfergruppen umfänglich erreicht worden«. Das ist so eine unverschämte, zynische, arrogante Frechheit! Dem muss man entgegensetzen, dass aus erinnerungskultureller Sicht bisher viel zu wenig in diesem Land passiert ist. Die allermeisten Menschen haben überhaupt keine Ahnung vom Thema. Es geht aber auch nicht nur um Erinnerungsarbeit, sondern um sehr viel mehr. In erster Linie geht es um ein »Nie wieder!«, um die Zerstörung der Grundlagen einer Einteilung von Menschen in »lebenswert« und »lebensunwert«. Der Umgang mit der Vergangenheit kann nicht von der Gegenwart getrennt werden. Von daher geht es auch um die Kennzeichnung und Pflege von Gräbern, in denen Opfer der NS-»Euthanasie« liegen, um Entschädigungszahlungen oder auch um ein dringend notwendiges Kassationsverbot, also ein Verbot der Vernichtung von relevanten Unterlagen. Weil: Aktenvernichtung passiert nach wie vor, und es wird im Rahmen der Stilllegung wie Privatisierung von Kliniken nicht besser. Mitte 2022 gab es einen guten Antrag der Partie Die Linke, der unter anderem die Ermordeten als Verfolgte des NS-Regimes einstufen und andere sinnvolle Änderungen einführen wollte. Diesem Antrag haben sich alle anderen Parteien schäbigerweise wegen irgendwelcher Parteiengeplänkel verweigert. Zwei Jahre später gab es einen ähnlichen, aber deutlich weichgespülteren Antrag von Grünen, FDP, CDU und SPD, in dem viele wichtige Punkte fehlten. Der sollte an genau dem Tag beschlossen werden, als Donald Trump gewählt wurde und die Koalition implodierte. Damit ist das Thema wieder einmal vom Tisch.
Andererseits gibt es durchaus verstärkt Initiativen von Angehörigen, aus der Zivilgesellschaft und auch in der Kunst, den Opfern Gehör zu verschaffen.
Das stimmt, aber auch dieses Gedenken muss kritisch begleitet werden. Gerade bei den Opfern dieser Morde landet man schnell in der Normalisierungsfalle, das heißt den Opfern wird ihre Behinderung genommen, um eine Identifikation durch das nicht behinderte Publikum zu ermöglichen. Der Spielfilm »Nebel im August« aus dem Jahr 2016 zum Beispiel erzählt die Geschichte eines Kindes, das nicht behindert ist. Da gibt es immer die Gefahr, dass die Opfer glattgemacht werden, und die implizite Botschaft ist dann, dass die Ermordung der »wirklich« kranken Menschen irgendwie nachvollziehbarer ist. Die realen Geschichten sind eben keine Held*innengeschichten. Die Menschen haben irgendeine beschissene Krankheit bekommen, wurden sozial isoliert, dann kamen die Nazis und haben sie umgebracht. Fertig. So ist das sehr oft passiert. Die Überlebenden konnten oder wollten aus verschiedenen Gründen ihre Geschichte nicht erzählen. Die Stigmatisierung und die Beschämung blieben ja ähnlich wie bei Zwangssterilisierten auch nach dem Ende der Vernichtung. Deswegen gibt es kaum Überlebenden-Erzählungen. Das erschwert ein Lernen über dieses Thema erheblich.
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