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- Interview mit Katharina und Zachary Gallant
Die Profite der Profiteure
Katharina und Zachary Gallant ermuntern die Deutschen: Habt den Mut, euch zu entnazifizieren!
»Entnazifiziert euch!«, fordern Sie die Deutschen von heute auf. Gewiss, es gibt unter ihnen nach wie vor Nazis. Aber dies tangiert doch nicht mehr die große Mehrheit der Deutschen?
Zachary Gallant: Doch. Zum Frühstück legen wir eine Melitta-Tüte in unsere Kaffeemaschine ein und füllen mit Kaffeebohnen von Edeka auf, genießen einen Joghurt oder ein Müsli von Dr. Oetker. Zur Arbeit geht es mit dem BMW oder dem VW Golf. Zur Stillung des Hungers zwischendurch knabbern wir Leibniz-Kekse. Nachdem wir die Kinder vom Kindergarten oder der Schule abgeholt haben, geht es zum Sport, in Schuhen von Adidas oder Puma. Abends füttern wir die Waschmaschine mit Waschpulver von Henkel und buchen bei der Deutschen Bahn Tickets für den bevorstehenden Urlaub. Alles Unternehmen, die von Zwangsarbeit und Judenmord profitiert haben.
… und teils schon lange vor 1933 die Nazis unterstützten. Auf dem Cover Ihres Buches findet sich ein Ausschnitt aus der berühmten Fotomontage John Heartfields vom Sinn des Hitlergrußes. Wie kam es dazu, dass Sie sich zu einer solchen Streitschrift veranlasst fühlten?
Katharina Gallant: Bei mir war es vor allem der politische Hintergrund. Ich war im Stadtrat einer Kleinstadt, als über die Benennung eines Parks entschieden werden sollte. Er sollte nach einer Wohltäterin benannt werden. Der Name sagte mir etwas, ich hatte ein ungutes Gefühl, machte mich kundig und erfuhr von deren familiärem Hintergrund in den Jahren 1938 bis 1945.
Zachary: Wir selbst haben Geld für Flüchtlingsprojekte von Stiftungen deutscher Unternehmen erhalten, die tief verstrickt waren. Sie waren großzügig – und wir dankbar. Doch ich war im Nachhinein schockiert, als ich die ganze Dimension ihrer Mittäterschaft erfuhr.
Um welche handelte es sich?
Unser Projekt, das jungen Geflüchteten beim Eintritt in die deutsche Arbeitswelt helfen sollte, hat die BMW-Erbin Susanne Klatten unterstützt, deren Milliarden sich unleugbar der »Arisierung« und Zwangsarbeit in der Nazi-Zeit verdanken. Das Unternehmen hat sich erstmals 2016 für seine Rolle in der NS-Zeit öffentlich entschuldigt, jedoch wurden der Familie ihre unrechtmäßig erworbenen Milliarden nie entzogen. Ein weiteres Projekt, an dem wir beteiligt waren, wurde von Henkel und Hertie finanziert. Henkel profitierte ebenfalls von »Arisierungen« und Zwangsarbeit, wirkte eng mit Degussa zusammen, die auch noch das Zahngold ermordeter KZ-Häftlinge verwerteten. Der Name Hertie leitet sich von Hermann Tietz ab, dem Namen eines jüdischen Kaufmanns, der das Kaufhaus Tietz mitbegründet hatte und schon 1934 »arisiert« wurde. Der Vorstand der Hertie-Stiftung beugte sich erst 2020 dem öffentlichen Druck, vor allem von Studenten, eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung in Auftrag zu geben.
Katharina F. Gallant ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Entwicklungsforschung an der Universität Bonn. Die promovierte Ethnologin und Psychologin befasst sich mit Interkulturalität und interethnischen Konflikten, sowohl in jüdischen und muslimischen Gemeinschaften in Europa als auch bei indigenen und afroamerikanischen Minderheiten in Nord- und Lateinamerika.
Zachary Gallant hat einen Master-Abschluss in Internationaler Politik der Universität London und war Vorstandsmitglied des American Jewish Congress. Seit 2015 führt er Projekte zu Antidiskriminierung und Klimagerechtigkeit in Deutschland durch, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und von der Europäischen Union gefördert werden.
Um beim Beispiel Henkel zu bleiben: Das Unternehmen durchlief nach dem Krieg ein Entnazifizierungsverfahren.
Zachary: Ja, doch war dies angesichts der tatsächlichen Schuld absolut lachhaft. Mitglieder der Familie und Manager des Unternehmens waren zwar zeitweilig inhaftiert und die britische Besatzungsmacht wollte ursprünglich die Familie dauerhaft von Führungspositionen im Unternehmen entbinden. Internationalen Beziehungen des Unternehmens in die Vereinigten Staaten und nach Großbritannien und eine inszenierte Pressekampagne führten dazu, dass sie ausgesprochen glimpflich davonkam. 1947 wurde die Familie Henkel als »entnazifiziert« erklärt, sie erhielten ihren Persilschein …
Wie treffend das Wort gerade hier!
Katharina: Das gab es aber schon im Ersten Weltkrieg. Jedenfalls erhielt die Familie das von der britischen Besatzungsmacht zunächst eingefrorene Vermögen zurück und das damalige Familienoberhaupt Jost Henkel wurde wieder zum Geschäftsführer ernannt und blieb dies bis zu seinem Tod 1961.
Konsequent entzogen wurde den Henkels aber ihr Vermögen im Osten, durch Verstaatlichung. Die Volkseigenen Betriebe konnte sich die Familie nach 1990 wieder zurückholen. Apropos, darf man Ihren familiären Hintergrund erfahren?
Zachary: Unser Nachname geht zurück auf den Hochrabbiner von Damaskus, Syrien, bevor dieser Zweig der Familie in den Westen floh. Der andere Teil meiner Familie stammt aus Weißrussland und Polen. Diejenigen Familienmitglieder, die nicht vor der Nazi-Zeit in die USA geflohen sind, wurden fast alle 1942/43 ermordet. Im Dokumentationszentrum des Holocaust-Mahnmals in Berlin konnte ich viel über das Schtetl meiner Urgroßmutter erfahren. Das hat mich tief beeindruckt und erschüttert.
Katharina: Zu meinem familiären Hintergrund gehören Mitverschwörer des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944, aber auch Wehrmachtsgeneräle, die Truppen an genau jenen Orten befehligten, wo Zacharys Vorfahren lebten. Wir hoffen mit unserem Buch, das als ein »Dialog in Differenz« zwischen jüdischen Menschen und nicht-jüdischen Deutschen gelesen werden kann, zu einer Überwindung des drückenden Nazi-Erbes der Deutschen beitragen zu können.
Und dazu gehört, dass sich die Deutschen bewusst werden, wo dieses Erbe buchstäblich materiell und finanziell steckt. Sollten die Deutschen Melitta, Dr. Oetker, Henkel, BMW, VW etc. boykottieren, deren Produkte nicht mehr kaufen?
Zachary: Es ist fast unmöglich, in Deutschland zu leben, ohne Produkte von in Nazi-Verbrechen involvierte Unternehmen zu konsumieren. Es gibt wohl kaum eine deutsche Firma, die auf eine über 80-jährige Geschichte zurückblicken kann und sich nicht schuldig gemacht hat. Und oft werden die Produkte dieser Firmen nicht umsonst als deutsche Qualität gerühmt. Bahlsens Leibniz-Kekse sind schmackhaft, die Schuhe von Salamander hochwertig. Salamander hatte einst eine Schuhfabrik im KZ Sachsenhausen betrieben, inklusive der berüchtigten »Schuhprüfstrecke« aus Schotter, Sand, Steinen, über die die Häftlinge bis zur totalen Erschöpfung laufen mussten, um die Beständigkeit der Sohlen, des Leders oder Kunststoffs zu testen. Wer zusammenbrach, wurde erschossen.
Katharina: Wir sollten aufhören, diese Familien zu verehren, Denkmäler, Parks und öffentliche Gebäude nach ihnen zu benennen. Wir dürfen aus ihnen keine Helden machen. Es ist 1945 nicht alles vorbei gewesen, es gab keine »Stunde Null«.
Die heutigen Profite der Unternehmen basieren auf den blutbefleckten Profiten von damals. Indes: Diese Unternehmen fördern wichtige wissenschaftliche, kulturelle, soziale Projekte. Können wir es uns leisten, sie zu brüskieren?
Katharina: Das ist ein schwieriges, ein weites Feld. Natürlich brauchen soziale, kulturelle und wissenschaftliche Projekte Geld, wenn der Staat Kultur, Wissenschaft und Sozialleistungen nicht oder immer weniger subventioniert. Wir können auf die Großzügigkeit der Unternehmen nicht verzichten …
Die aber recht willkürlich ist? Die Unternehmen wählen die Adressaten aus?
Katharina: Zumindest ist die Auswahl nicht notwendigerweise im Sinne der Opfer jener Unternehmen in der NS-Zeit.
Zachary: Es gibt in Deutschland keine Zivilgesellschaft ohne diese Unternehmen und Stiftungen. Auch die NGOs sind von ihnen abhängig. Wenn man von diesen Unternehmen und ihren Stiftungen Geld annimmt, sollte man dies nicht als Bittsteller tun, sondern auch den Mut haben, zu sagen: »Das ist nicht euer Geld.« Und man sollte fragen: »Warum sitzen in euren Vorständen nicht Angehörige, Nachfahren oder Vertreter jener, denen ihr euren Reichtum verdankt?« Ob Juden, Sinti und Roma oder andere Opfergruppen.
Das träfe andernorts in der Welt ebenso auf Indigene zu.
Zachary: Natürlich. Das gilt auch für Unternehmen und Stiftungen, die aus jenen Companys hervorgingen, die von der Sklaverei und von kolonialer Ausbeutung profitierten und deren Gewinne nach Aufhebung der Sklaverei und Proklamation der Unabhängigkeit der einstigen Kolonien in keiner Weise geschmälert wurden.
Sie sind nicht zur Kasse gebeten worden, mussten keine Entschädigungen zahlen.
Katharina: Und dieses Unrecht besteht bis heute fort. Die Supermarktkette Edeka ist 1898 von 21 Berliner »Kolonialwarenverkäufern« gegründet worden. Einer der Gründer, Generaldirektor Fritz Borrmann, beeilte sich, 1933 der NSDAP beizutreten. Edeka profitierte von der »Arisierung«, hat sich unter anderem jüdische Weingüter einverleibt und den völkerrechtswidrigen »Anschluss« Österreichs und des Sudetenlandes an Nazideutschland ohne Gewissensbisse genutzt, um den eigenen Absatz enorm zu steigern. Edeka weigerte sich bis zuletzt, den Nachkommen der Opfer Entschädigungen zu zahlen, zeigt keine Anzeichen von Reue.
Und die deutschen Unternehmen, die mit der Förderung von Projekten Gutes tun, sind nicht philanthropisch beseelt, sondern wollen sich lediglich reinwaschen?
Katharina: Ich weiß nicht, ob wir allen eine solche Intention unterstellen können, aber im Endeffekt dürfte es auf viele zutreffen. Wenn ich in der Presse lese, wie sie überschwänglich gelobt werden und sehe, wie ihnen auf Flyern zu Sport- und Kulturveranstaltungen oder Einladungen zu Ausstellungen explizit gedankt wird – da wird mir übel. Es ist höchste Zeit, dem Einhalt zu gebieten und den Hintergrund richtigzustellen. Und da genügt es eben nicht, wenn sich eine Stiftung umbenennt. Die Benckiser-Stiftung der Unternehmerfamilie Reimann, Inhaber eines NS-»Musterbetriebes« in der Chemiebranche, wurde 2019 nach Alfred Landecker umbenannt, um einen von den Nazis ermordeten jüdischen Buchhalter zu ehren. Doch das Familienvermögen wechselte nicht die Hand.
Zachary: Philanthropie wirkt oft wie Schönfärberei!
Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit deutscher Unternehmen begann in der Bundesrepublik erst in den 90er Jahren.
Zachary: Mit Degussa schon in den 80ern.
Und in der DDR schon viel früher. Fakt ist: Die bundesdeutschen Unternehmen wurden von außen gezwungen, ihre Firmengeschichte aufzuarbeiten oder aufarbeiten zu lassen – als in US-amerikanischen Zeitungen im Kontext der Forderung nach einem Fonds zur Entschädigung von Zwangsarbeitern Listen mit Namen und Hausnummern der Profiteure veröffentlicht wurden.
Zachary: Ja, und es waren nicht deutsche, sondern ausländische Forscher, die den Anfang machten. Als die deutschen Unternehmen schließlich gezwungen waren, sich ihrer Geschichte zu stellen, haben sie renommierte Wissenschaftler beauftragt, mit deren klangvollen Namen sie glänzen konnten, um dann zu sagen: »Schaut uns an, wie gut wir unsere Geschichte aufgearbeitet haben.«
Zu den renommierten Wissenschaftlern gehörte Hans Mommsen, Urenkel des großen Althistorikers und ersten deutschen Literaturnobelpreisträgers Theodor Mommsen. Er hat, von VW finanziell sehr großzügig ausgestattet, Zwangsarbeit bei Volkswagen erforscht. Das voluminöse Werk blieb nicht unumstritten.
Zachary: Mir sind unabhängige Historiker lieber. Bei einer »kooperativen Aufarbeitung«, zu der ein Unternehmen einen bestimmten Historiker beauftragt, kommen oft die Reformvorschläge zu kurz. Die Unternehmensgeschichte wird berichtet, aber es resultieren keine Konsequenzen. Und natürlich besteht der Verdacht: Eine Hand wäscht die andere.
Katharina: Ich muss da mal die Wissenschaftler in den Schutz nehmen. Natürlich gibt es unter ihnen auch immer schwarze Schafe, man sollte deshalb aber nicht alle verdächtigen. Und es gibt Firmen, die ihre Archive freiwillig öffnen, interessierten Forschern Einblick gewähren. Aber generell ist es in der Tat für Wissenschaftler, die nicht direkt von einer Firma beauftragt sind, nach wie vor schwierig, an historische Dokumente zu gelangen.
Mommsen lehnte strikt den Begriff »Slave Worker« ab, den viele Opfer anstelle des harmloser klingenden Begriffs Zwangsarbeit respektive Forced Labour favorisierten.
Zachary: Da hat er aber nicht ganz unrecht. Ein Sklavenhalter achtete darauf, dass seine Sklaven arbeitsfähig bleiben, um ihm zu dienen, ob im Haushalt, auf den Plantagen oder in Bergwerken. Dahingegen war das von den Nazis proklamierte Ziel: »Vernichtung durch Arbeit«. Hier ging es explizit um Ermordung.
Haben Sie im Zuge Ihrer Recherchen ein Beispiel für Eigeninitiative eines Unternehmens gefunden, sich seiner Geschichte anzunehmen?
Zachary: Nein
Katharina: Mir fällt da auch kein deutsches Unternehmen ein. Im Gegenteil, unmittelbar nach dem Krieg haben sie sich alle beeilt, einen Persilschein zu bekommen. Alle taten, als wären sie unschuldig, nicht beteiligt oder sogar widerständig gewesen.
Zachary: Uns ist es vor allem wichtig, zu zeigen, wie Nazi-Geld die deutsche Gesellschaft bis heute beeinflusst. Die Politik durch großzügige Zuwendungen an die Parteien, aber auch die Presse und das Verlagswesen bis hin zum Sport und der Kultur.
Nazi-Geld beeinflusst noch heute politische Entscheidungen und Gesetzgebungen?
Zachary: Ja. Ein Irrglaube, dass wer groß spendet, keinen Einfluss hat. Wenn Millionen jedes Jahr an die großen politischen Parteien gehen, dann darf man davon ausgehen, dass die Geber auch etwas erwarten.
Katharina: Manche Unternehmen spenden an zwei oder drei Parteien, vielleicht in unterschiedlicher Höhe, womöglich mit dem Hintergedanken, sich alle Optionen offenzuhalten.
Auch die AfD erfreut sich großzügiger Spenden aus Industriellenmilieu. Müssen wir uns wieder Sorgen machen?
Zachary: Ja, wir müssen uns große Sorgen machen. Man vergleiche nur das aggressive Abschiebeprogramm der AfD, Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland zu verbannen, mit der Nazi-Propaganda der 30er Jahre: »Juden raus!«, »Juden nach Jerusalem« etc. Die Parallele ist unverkennbar. Und die AfD kommt mit ihren Forderungen bei viel zu vielen Deutschen an. Deutschland hat sich nicht entnazifiziert.
Wird aber international gelobt für die Aufarbeitung der NS-Zeit.
Katharina: Es gibt in Deutschland viele, die sich die Aufarbeitung zu Herzen nehmen und sich bemühen, Gesellschaft und Politik moralischer zu gestalten, damit sich nie wiederhole, was geschehen ist. Es reicht aber nicht aus, die historische Schuld anzuerkennen. Und man darf sie erst recht nicht als Last empfinden, sondern muss sie als Verantwortung akzeptieren. Aufarbeitung ist eine immerwährende Aufgabe. Und Deutschland hat da durchaus Vorbildliches geleistet.
Zachary: Was sich gegenwärtig zu ändern scheint. Ja, das Eingeständnis historischer Schuld ließ Deutschland im internationalen Vergleich besonders ehrlich erscheinen und wurde sogar nach dem Sturz von Saddam Hussein vom US-Militär und dem Weißen Haus als Modell für eine Ent-Baathifizierung im Irak präsentiert sowie von CNN und Fox propagiert. Und der ehemalige britische Premier Tony Blair erklärt in seinen Memoiren, dass die »Ent-Baathifizierung« ein »weit weniger drastisches Programm war als etwa das Entnazifizierungsprogramm in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg«. Das brauche ich wohl nicht zu kommentieren.
Nein. Alles klar. Der Titel Ihres Buches ist angelehnt an den Appell des französischen Résistancekämpfers, Buchenwald-Häftlings und Mitautors der UN-Menschenrechtsdeklaration Stéphane Hessel: »Empört euch!« Im Falle der Nazis unter uns genügt Empörung nicht?
Katharina: Nein. Die nicht stattgefundene systemische Entnazifizierung Deutschlands muss endlich erfolgen.
Aber wie denn konkret?
Zachary: Indem die Ungerechtigkeit, dass Deutschland seit nunmehr 80 Jahren von der Entrechtung, Enteignung und dem Mord an den Juden sowie der Ausplünderung der von den Nazis okkupierten Länder Europas profitiert hat, endlich getilgt wird. Und Gerechtigkeit hergestellt wird, das ganze blutbefleckte Kapital den Opfern und dem Gemeinwohl zugutekommt.
Für die Opfer der Nazis ist es zu spät. Wer soll heute konkret durch die von Ihnen geforderte Entnazifizierung Gerechtigkeit erfahren?
Zachary: Um Gerechtigkeit zu fördern, müssen diese Profite zur Minderung globaler Probleme eingesetzt werden: gegen Hunger und gegen Kriege, aber auch um den Klimawandel aufzuhalten, etwa durch den Einsatz nachhaltiger Energiequellen oder auch durch den Ausbau des öffentlichen Verkehrssystems. Dies sind Themen, die Juden weltweit am Herzen liegen.
Und um die Deutsche Bahn zu sanieren? Einem der größten Profiteure unterm Hakenkreuz! Die Reichsbahn beförderte nicht nur die Wehrmacht an die Fronten und in die besetzten Gebiete, sondern stellte auch die Deportationszüge in die Ghettos nach Osten und in die Vernichtungslager.
Katharina: Natürlich darf die Deutsche Bahn nicht im Vordergrund stehen! Außerdem müssen wir uns vor Augen führen, dass die Nazi-Profite zwar in der einen oder anderen Weise durchaus der deutschen Gesellschaft zugutekommen, die Nazi-Opfer waren aber vor allem osteuropäischer Herkunft. Also muss auch die Gerechtigkeit über die deutschen Grenzen hinausgetragen werden, sie muss global erfolgen.
Zachary: Ein noch größerer Nazi-Profiteur als die Deutsche Bahn war zudem die Rüstungsindustrie. Und heute streichen die Rüstungskonzerne von damals, Thyssen, Rheinmetall, Siemens, Bosch wieder riesige Profite ein.
Was ist zu tun? Sollte man all diese Konzerne enteignen?
Katharina: Eigentlich ja.
Erleidet Deutschland dann nicht einen wirtschaftlichen Kollaps?
Zachary: Nein. Und um das klarzustellen: Wir wollen Deutschland nicht ruinieren. Auch nicht den Weltmarkt zum Einbruch bringen. Denn es handelt sich hier um ein Vermögen von über 300 Milliarden Euro, das global zirkuliert.
Unmöglich, dessen habhaft zu werden.
Zachary: Eigentlich ist das gar nicht so schwer. Europäische Regierungen haben in jüngster Zeit bewiesen, dass Enteignungen möglich sind, beispielsweise mit der Beschlagnahmung von Gaddafis Vermögen oder mit der Einziehung der Yachten russischer Oligarchen und Einfrierung der ausländischen Konten russischer Millionäre …
Katharina: Unsere Idee ist: Die Unternehmen bleiben intakt. Keiner der Arbeitsplätze ist betroffen. BMW bleibt BMW, Mercedes bleibt Mercedes, Porsche bleibt Porsche, Henkel bleibt Henkel. Was sich ändert, ist, dass den bisherigen Eigentümern die unrechtmäßigen Profite ihrer Familien entzogen werden. Das ist es, was ursprünglich hätte geschehen müssen. Es ist noch nicht zu spät, es jetzt zu tun.
Zachary: Ein Wissenschaftlerteam hat 2019 errechnet, dass 300 Milliarden US-Dollar notwendig wären, um den Klimawandel aufzuhalten. Stellen Sie sich vor, Nazi-Profiteure könnten mit ihren Milliarden den Klimakollaps abwenden! Eine andere Studie kam zu dem Ergebnis, dass ein Ende des Hungers in der Welt bis 2030 rund 300 Milliarden Euro kosten würde. Nazi-Milliarden beenden weltweit den Hunger – grandios!
Katharina: Und das Beste ist: die Bekämpfung des weltweiten Hungers und des Klimawandels hängen miteinander zusammen. Zumindest anteilig lassen sich daher beide Entwicklungsziele gleichzeitig verfolgen.
Man könnte die aus den NS-Profiten resultierenden und stetig zuwachsende Übergewinne nehmen?
Zachary: Zum Beispiel. Jedenfalls wird akademische Aufarbeitung sowie öffentliches Erinnern und Gedenken erst sinnvoll, wenn Handeln folgt.
Sie sprechen von »Gedächtnistheater«.
Katharina: Ja oft gleicht die Aufarbeitungspraxis einer Theateraufführung. Oberflächliche Rituale, die mehr der Entschuldung als der Aufklärung dienen und ohne Konsequenz bleiben.
Ihr Fazit?
Zachary: Indem Deutschland eine tiefgreifende Entnazifizierung 2.0 vornimmt, könnte Deutschland die Welt retten.
Ein sympathischer Gedanke.
Katharina und Zachary Gallant: Entnazifiziert euch! Wider den Mythos der Vergangenheitsbewältigung. Westend-Verlag, 256 S., br., 25 €.
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