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War da was?

Terror – Sklavenarbeit – Völkermord: Susanne Willems verortet Auschwitz im kapitalistischen System

  • Bettina Richter
  • Lesedauer: 5 Min.
Torhaus des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau
Torhaus des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau

Allein der Name des Ortes ist Erklärung genug. Sobald er fällt, läuft im Kopf der Film. Wir kennen die Bilder. Wir kennen die Botschaft. Und deren Missbrauch. Wir haben den Auftritt eines grünen Außenministers vor Augen, als er 1999 Deutschland in einen Krieg zwang – den ersten seit 1945, jenem Jahr, in welchem Auschwitz befreit wurde. Mit der Lüge, es drohe ein »neues Auschwitz« auf dem Balkan, was verhindert werden müsse, rechtfertigte Joschka Fischer die Bombardierung serbischer Städte. Der Nato-Krieg mit deutscher Beteiligung war völkerrechtswidrig und gründete auf einem in mehrfacher Hinsicht unzulässigen Vergleich. Entweder weil jene, die ihn benutzten, die Historie des Lagers nicht kannten oder weil deren Zweck bekannt war und absichtsvoll verdrängt wurde. Andernfalls hätte man nämlich keine Analogie herstellen können.

Vermutlich war es Unkenntnis. Denn es hat sich das Narrativ verfestigt, Auschwitz sei ausschließlich Ausdruck des Rassenwahns der Nazis und einzig zur Vernichtung der Juden errichtet worden. Dass es so nicht war, beweist die Berliner Historikerin Susanne Willems in ihrem Buch sehr überzeugend.

Natürlich, in Auschwitz wurden Hunderttausende Juden ermordet, die von den Nazis aus ganz Europa zusammengetrieben worden waren. Wer das leugnet, gehört entweder in eine Anstalt oder vor Gericht. Aber der ursächliche Zweck – und das hatte bereits der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg explizit festgestellt – bestand darin, »dauernd etwa 200 000 Menschen gefangen zu halten, um diese durch in höchstem Maße entkräftende Zwangsarbeit auszubeuten«. Auschwitz war ein strukturelles Element der deutschen Kriegswirtschaft. Die Arbeitssklaven, so sie denn »in einem Zustand völliger Erschöpfung« waren, wurden »als nutzlos umgebracht«. Und diese Sklaven wurden durch neue ersetzt, die ins Lager gebracht wurden. »Es war ein genau ausgearbeitetes System, ein schreckliches laufendes Band des Todes«, konstatierten die Richter in Nürnberg. 

Auschwitz war für den deutschen Staat und deutsche Konzerne eine Goldmine.

Susanne Willems belegt dies. Sie hat jahrelang die Entstehung des Lagers, seine Veränderung und schließlich den laufenden Betrieb erforscht. Zunächst war die ehemalige Kaserne als »Ort der Internierung, Folter und Vernichtung polnischer politischer Gefangener« geplant. Erst im Laufe der Zeit wurde Auschwitz »zu einem Ort der Versklavung und Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener, der Sinti und Roma und einer Million Juden«. Denn: »Die SS orientierte ihre Entscheidungen über die Funktion und den Ausbau dieses Lagers«, so Willems, »nicht nur an den eigenen politischen und ökonomischen Optionen, sondern auch an den Interessen ihrer mächtigen Partner: zuerst der I.G. Farbenindustrie, dann der Wehrmacht und schließlich des Rüstungsministeriums.«

Willems dokumentiert mit wissenschaftlicher Akribie die Genesis des Lagers und berücksichtigt dabei auch die allerneuesten internationalen Forschungsergebnisse. Ihr Buch enthält somit den aktuell höchsten, empirisch gesicherten Kenntnisstand über das KZ Auschwitz.

Dabei geht es nicht um die Korrektur von Zahlen (auch das war nötig), sondern um die Feststellungen zur Funktion des Lagers und die Intentionen seiner Betreiber. Und diese Interessen waren in erster Linie ökonomischer Natur. Ohne zynisch zu klingen, kann man sagen: In Auschwitz war der Kapitalismus in der Verwertung des Menschen am konsequentesten. Erst stahl er ihm die Arbeitskraft, dann raubte er ihm die Würde, am Ende das Leben. Seine geringe Habe wurde vollständig verwertet: Haare, Zähne, Knochen, die Schuhe, Kleidung, Brillen, Prothesen, Kämme und Koffer, Emaillebecher …

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Die Baracken in Birkenau, in denen dies alles gesammelt wurde, hießen zynisch »Kanada«. Birkenau war für die SS das schlesische »Klondike« – jene Region in Kanada, wo Ende des 19. Jahrhunderts Gold gefunden worden war, was die größte Schatzsucherwelle in der Geschichte Amerikas auslöste.

Auschwitz war für den kapitalistischen deutschen Staat und für deutsche Konzerne so etwas wie eine Goldmine. Die Wissenschaftlerin Willems formuliert es sachlicher: »Die von der SS Hand in Hand mit Interessenten aus Staat und Wirtschaft betriebene Expansion des Lagers machte Auschwitz nach der Zahl der deportierten, ermordeten, gefangenen und abermals in andere KZ transferierten Menschen zum größten der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager.«

Willems polemisiert nicht, sie baut auf die Wirkung der Fakten. Begriffe wie Faschismus, Kapitalismus und Holocaust oder Pejorative kommen bei ihr nicht vor, konsequent verzichtet sie auf die Verwendung von Vornamen bei allen Nazis, was für sie augenscheinlich die höchste Form der Verachtung darstellt. Vor allem jedoch setzt sie andere Akzente, wendet sich ab von der in der bürgerlichen Gesellschaft vorherrschenden moralisierenden, emotionalisierten Bewertung, die letztlich der Verschleierung der tatsächlichen Funktion dieses Lagers dient.

Europas größter Konzern, das weltweit größte Chemieunternehmen – die I.G. Farbenindustrie AG –, hatte Ende 1939, nach der Okkupation Polens, das Areal eruiert und »expandierte planvoll in das oberschlesische Industrierevier«. Ab Mitte 1940 ebnete die I.G. Farben den Weg für den durch Kriegsaufträge gedeckten, aber von kriegsbedingten Reichszuschüssen unabhängigen Werksneubau in Auschwitz. Die Reichsregierung sorgte für die schnelle Amortisation jeder Investition, indem sie 1940 das Okkupationsgebiet für zunächst zehn Jahre zum Steuerparadies für deutsche Unternehmen erklärte. Die Zahl der täglich auf den Baustellen des Werkes geschundenen Sklavenarbeiter stieg von 150 im April 1941 auf fast 10 000 im Juli 1944.

Alles belegt, alles dokumentiert. Alles wahr. Und die I.G. Farben war nur ein Unternehmen. Mit Rassenwahn und Antisemitismus hatte das wenig zu tun. »Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn«, zitierte dereinst Karl Marx einen britischen Gewerkschaftsfunktionär. »Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.«

Der Galgen, an dem der Lagerkommandant Rudolf Höß gehenkt wurde, steht noch auf dem Lagergelände. Andere Nazi-Verbrecher endeten in Nürnberg ebenfalls am Strang. Das Verfahren gegen 23 leitende Angestellte der I.G. Farbenindustrie AG vor einem US-amerikanischen Militärgericht schloss mit 13 Haftstrafen und zehn Freisprüchen »aufgrund fehlender Beweise«. Am 31. Oktober 2012 wurde das Unternehmen im Handelsregister gelöscht. War da was?

Susanne Willems: Auschwitz. Terror – Sklavenarbeit – Völkermord. Mit Fotos von Fritz und Frank Schumann. Edition Ost, 288 S., geb., 20 €.
Die Berliner Historikerin stellt ihr Buch am 30. Januar, 15 Uhr in der Hellen Panke in Berlin vor (Kopenhagener Str. 9, Prenzlauer Berg).

Das Foto auf dieser Seite wie auch die Aufnahmen aus der Gedenkstätte in Auschwitz auf den folgenden Seiten sind dem Buch entnommen und stammen vom dpa-Fotonachwuchspreisträger
Fritz Schumann.

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