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Eine Revolution von oben
Die Uno kann auch gut sein: Die Behindertenrechtskonvention ist ein Meilenstein des Kampfes um die Menschenrechte
Im Jahr 2010 war Hamburg kurz davor, zumindest einen kleinen Schritt in Richtung Inklusion zu gehen. In Reaktion auf ein – auch im bundesweiten Vergleich – konstant schlechtes Abschneiden in der Pisa-Studie und auf die hohe Zahl von Schulabbrechern ohne Abschluss (7,8 Prozent) sollte unter anderem die Grundschulzeit von vier auf sechs Jahre verlängert werden. Doch dagegen formierte sich deutlicher Widerstand aus dem Hamburger Bürgertum, das die eigenen Kinder lieber früher als später vom Plebs getrennt sehen wollte, um sie aufs Gymnasium zu hieven. Genau diese Elternentscheidung sollte in Hamburg abgeschafft werden.
Doch eine Elterninitiative mit dem höhnischen Namen »Wir wollen lernen« erreichte, dass per Volksabstimmung über die Pläne abgestimmt werden sollte, und tatsächlich stimmte eine knappe Mehrheit gegen die Gesetzesinitiative. Die Wahlbeteiligung lag allerdings nur bei 39 Prozent. Damit war zumindest dieser von einer schwarz-grünen Landesregierung unternommene Versuch, mehr Bildungsgerechtigkeit herzustellen, gescheitert. Auch wenn andere Teile der Reformen trotzdem in Kraft traten, ließ sich einmal mehr feststellen: Trennung ist in Deutschland stilbildend. Die der Bildungswege stammt noch aus der Kaiserzeit.
Der tägliche Strom an Nachrichten über Krieg, Armut und Klimakrise bildet selten ab, dass es bereits Lösungsansätze und -ideen, Alternativprojekte und Best-Practice-Beispiele gibt. Wir wollen das ändern. In unserer konstruktiven Rubrik »Es geht auch anders« blicken wir auf Alternativen zum Bestehenden. Denn manche davon gibt es schon, in Dörfern, Hinterhöfen oder anderen Ländern, andere stehen bislang erst auf dem Papier. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht.
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Die Auftrennung der Gesellschaft ist nicht nur auf den Bildungssektor beschränkt, sie ansatzweise zu überwinden hat fast immer Klassenkampfcharakter. Inklusion statt Exklusion durchzusetzen ist ein umfassender Prozess, er lässt sich nicht durch eine einzige Erklärung oder ein Gesetz aufoktroyieren. Nichtsdestotrotz gibt es im großen Maßstab, auf weltpolitischer Ebene ein Paradebeispiel gelungener Emanzipation: die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die 2008 in Kraft trat. Sie ist ein Meilenstein des Kampfes um die Menschenrechte. Sie wurde 2006 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen auf Initiative Mexikos hin verabschiedet.
Weltweit leben etwa 650 Millionen mit Behinderung. Die UN-BRK ist die Konsequenz aus der Erklärung der Menschenrechte 1948, dem UN-Sozialpakt und UN-Zivilpakt von 1966 und verschiedener Erklärungen, vor allem der »Erklärung der Rechte der behinderten Menschen« von 1975. Auch wenn hier lange Zeiträume dazwischenliegen, so ist die UN-BRK in der gesamten Geschichte der Uno die Menschenrechtskonvention, die in kürzester Zeit von der größten Anzahl an Staaten unterzeichnet wurde: von 164 Staaten – und 191 Staaten haben sie ratifiziert. Und das, obwohl es ihr um nichts anderes geht als eine tiefgreifende und umfassende Umwälzung der Gesellschaft. Sie ist der Versuch einer Revolution von oben mit dem Ziel, dass alle Menschen in Würde leben können und dürfen.
Um zu verstehen, welches Ausmaß diese Neuorientierung in der Behindertenpolitik hat, lohnt ein Blick auf die jüngere Historie. Grob gesagt, lässt sich die Kategorisierung von Behinderung in vier große Modelle einteilen: 1. Die medizinische Sicht fragt als ältestes Modell nach den Defiziten, die am Leib hängen. 2. Die soziale Perspektive etablierte sich während der Behindertenrechtsbewegungen der 80er Jahre und schaut nach den Barrieren, die eine Teilhabe am sozialen Leben erschweren oder verunmöglichen: behindert ist man demnach nicht, behindert wird man. 3. Das kulturelle Modell geht einen entscheidenden Analyseschritt weiter. Die Erkenntnis, dass Behinderung historisch, sozial und kulturell hergestellt wird, ist Grundlage für die Frage, wie und warum das geschieht. 4. Das menschenrechtliche Modell gibt hierauf eine Antwort, die die UN-BRK etabliert hat: Die Situation behinderter Menschen hängt nicht mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zusammen, sondern mit einer relativen Rechtlosigkeit. Nicht der behinderte Mensch muss sich verändern, sondern die Gesellschaft, die ihn ausschließt.
Zentral für dieses Modell ist der Begriff der Inklusion, der die Leitidee der Integration ablösen soll. Die Integration geht normativ von einer Gesellschaft aus, in die hineinintegriert werden soll; es existiert in diesem Konzept eine Leitkultur des Normalen als gesellschaftliche Hauptströmung, an der sich alle Abweichenden zu orientieren haben. Inklusion hingegen versucht, Norbert Elias’ Idee der »Gesellschaft der Individuen« Rechnung zu tragen: nicht das Individuum ist verpflichtet, sich möglichst in die gesellschaftliche Normalität einzupassen, sondern Gesellschaft und Politik sind verpflichtet, die freie Entfaltung der bisher als abweichend Stigmatisierten zu gewährleisten. Der Blick verschiebt sich von den allgemeinen Normen auf die persönlichen Kompetenzen.
Praktisch bedeutet dies eine Aufhebung der lebensweltlichen Trennungen: alles, was öffentlich oder teilöffentlich ist, soll allen zugänglich sein. Das gilt – um einige Beispiele herauszugreifen – für das Schulsystem, das sich auch Kindern mit Hilfebedarf öffnen soll, statt sie in sonderpädagogische Einrichtungen abzuzweigen; das gilt für offenere Wohnformen wie beispielsweise Wohngemeinschaften, die die Heimunterbringungsstruktur ablösen soll. Und es gilt auch für den Arbeitsmarkt, der in vielen Ländern ein Werkstättensystem hervorgebracht hat, in dem Menschen mit Behinderung nominell auf die Integration auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet werden sollen. Nominell, weil das Werkstättensystem diese ihm gestellte Aufgabe nicht erfüllt: nur etwa ein Prozent der dort Beschäftigten entkommt dieser Parallelarbeitswelt. Nichtsdestotrotz wird die Einführung eines Mindestlohns in dieser Branche, die aktuell jährlich rund acht Milliarden Euro umsetzt, mit dem Hinweis verhindert, es handle sich um eine Rehabilitationsmaßnahme und nicht um Arbeit.
Man könnte der UN-BRK vorwerfen, dass sie weit hinter den Erwartungen zurückbleibt, weil viele unterzeichnende Staaten nach wie vor an ihren diskriminierenden Strukturen festhalten (und dieses Festhalten dann als humanistischen Paternalismus, als Mildtätigkeit oder sogar als praktische christliche Nächstenliebe verkaufen). Dieses Störfeuer hat die UN-BRK von Anfang an begleitet: Just in dem Moment, als die Konvention unterzeichnet wurde, beschloss zum Beispiel in Deutschland das Land Baden-Württemberg den Bau einer ganzen Reihe neuer Wohneinrichtungen, weil die damalige Regierung befürchtete, diese Art Ghettoisierung behinderter Menschen künftig nicht mehr umsetzen zu können. Auch jetzt im verstärkt aufflammenden Populismus wird versucht, um jeden Preis das »Normale« gegen alles Abnorme zu verteidigen. Das führt zu einem verstärkten Druck auf Marginalisierte. Der aktuelle Vorschlag des CDU-Generalsekretärs Carsten Linnemann, ein »Register für psychisch kranke Gewalttäter« einzuführen, ist nur die letzte Ausfälligkeit in dieser Richtung. Wie schnell solche Ideen in eine menschenverachtende Praxis umgesetzt werden können, war während der Pandemie gut zu beobachten, als in sehr kurzer Zeit eine umfassende Triage-Diskussion geführt wurde. In der Praxis läuft eine Triage auf eine Aussonderung behinderter Menschen hinaus – was punktuell dann auch umgesetzt wurde.
Dass die gesellschaftliche Normalität so beschissen ist, dafür kann die UN-BRK nichts. Man kann ihr ihren Idealismus vorhalten, der, wenn es um Menschenwürde und Menschenleben geht, keine Kompromisse duldet. Ihr 15-jähriges Bestehen wurde 2023 kaum nennenswert gefeiert. Es gab zu diesem Thema keine großen Titelseiten, kaum einmal ein Programmschwerpunkt irgendwelcher Kultureinrichtungen, höchstens ein paar Randnotizen im Radio und in Zeitungen.
Aber auf ihre Rezeption hat diese Konvention keinen Einfluss. Was sie allerdings kann, ist, Betroffene zum Sprechen zu bringen: Just im Jahr des Jubiläums wurde nämlich der Prüfbericht an die Vollversammlung der UN zur Umsetzung veröffentlicht. Genau genommen gibt es zwei Prüfberichte: den offiziellen und den sogenannten Schattenbericht, in dem Betroffenenorganisationen die Umsetzung beurteilen. Da kann man jetzt haarklein nachlesen, was alles schiefläuft beim Thema Inklusion in Deutschland – und man kann auch sehr genau nachlesen, dass es kaum Fortschritte gab, dafür aber eine Menge Rückschritte. In dem Schattenbericht heißt es: »Deutschland ist noch weit von einer umfassenden Umsetzung der UN-BRK entfernt. Nach wie vor ist Exklusion statt Inklusion für behinderte Menschen an der Tagesordnung.«
Und dieses Wissen kategorisiert verfügbar zu haben, ist Grundvoraussetzung dafür, die Politik um Handeln zu zwingen. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist tatsächlich eine Konvention für Behinderte und kein bullet point für Sonntagsreden oder Verhandlungsmasse für privilegierte Schichten. Dafür, dass sie nicht umgesetzt wird, kann sie nichts.
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