»Kleider machen Leute«: Aufbruch und Angst

Eine zutiefst humane Oper: »Kleider machen Leute«, neu ediert am Staatstheater Cottbus

  • Kai Köhler
  • Lesedauer: 5 Min.
Wie einst John Travolta: Der falsche Graf im Unterhemd macht emphatische Bewegungen.
Wie einst John Travolta: Der falsche Graf im Unterhemd macht emphatische Bewegungen.

Stellen Sie sich vor: Spätherbst, Sie sind arbeits- und wohnungslos, haben keinen Cent in der Tasche. Aber weil Ihre Kleidung immer noch ansehnlich ist, hält man Sie für eine hochgestellte Persönlichkeit. Essen und Zimmer in einem Gasthaus werden Ihnen förmlich aufgedrängt, man reißt sich um Ihre Bekanntschaft. Hand aufs Herz: Klären Sie den Irrtum auf?

Der Schneider Wenzel Strapinski kommt in Gottfried Kellers Erzählung »Kleider machen Leute« von 1874 in ebendiese Lage. Immerhin versucht er ein paarmal, sich zu verdrücken. Aber immer scheitert dies an irgendeinem kleinen Umstand – und später an dem größeren, dass er sich in die Amtsratstochter Nettchen verliebt und die sich in ihn. Diese jedoch hat einen weiteren Verehrer, den aufmerksamen Melchior Böhni, der früh bemerkt, dass der angebliche polnische Graf so merkwürdig zerstochene Finger hat. Böhni zieht Erkundigungen ein und inszeniert eine spektakuläre Entlarvung Strapinskis.

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Alexander Zemlinsky hat daraus eine Oper gemacht, die 1910 uraufgeführt wurde. Sein Librettist Leo Feld hat die ökonomischen Vorgänge weniger scharf als Keller gefasst. Ebenso fehlt die Rache, die Strapinski und Nettchen in der Nachgeschichte der Haupthandlung nehmen. Dass die Oper mit Nettchens Bekräftigung der Liebe endet, nun nicht zum Grafen, sondern zum Schneider, mag man als Wendung zum Sentimentalen ablehnen. Doch muss ein Libretto für Musik taugen.

Tatsächlich komponierte Zemlinsky eine Oper, die den Vergleich mit den berühmtesten Gattungsbeiträgen nicht zu scheuen braucht. Er greift hier unterschiedlichste Idiome vom Volksliedton über den Walzer und das Operettenhafte bis hin zum Groteskmarsch und Wagner’scher Emphase auf. Dies dient der Charakterisierung von Personen, Situationen und sozialen Verhältnissen. Dabei entsteht kein Mischmasch, sondern es gelingt Zemlinsky, all dies in seine eigene Musiksprache einzuschmelzen. Die Melodik ist prägnant, erkennbare Leitmotive kommentieren das Geschehen und verleihen ihm eine zusätzliche Dimension. Eine entwickelte Variantentechnik verhindert Einförmigkeit, die Instrumentation sorgt für Klarheit.

Freilich fehlen spektakuläre Effekte, mit denen zeitgleich Richard Strauss oder Giacomo Puccini nicht gegeizt haben. Diese beiden setzen auf Gelegenheitsbesucher wie aufs konzentrierte Publikum, Zemlinsky nur auf Letzteres. Wer aber genau zuhört, entdeckt eine Vielzahl von Bezügen. Vor allem ist »Kleider machen Leute« eine zutiefst humane Oper. Überhaupt wird man in Zemlinskys musiktheatralem Werk, von Nebenfiguren abgesehen, fast niemanden finden, dem das Mitempfinden des Komponisten nicht gilt. Dies verschwimmt keineswegs im Sentimentalen, sondern wird situationsangemessen szenisch genau komponiert.

Schon aus diesen Gründen ist es ein Verdienst des Staatstheaters Cottbus, das allzu selten aufgeführte Werk auf die Bühne zu bringen. Zu sehen und zu hören ist eine Version, die Zemlinsky 1913 für das Theater Mannheim erstellt hatte und die wegen der Theaterschließungen zu Beginn des Ersten Weltkriegs nie aufgeführt wurde. Antony Beaumont, der bereits eine Aufführungsfassung von Zemlinskys unvollendeter Oper »Der König Kandaules« erstellte, hat das Material ediert, sodass man in Cottbus selbstbewusst eine »Uraufführung« vermeldet.

Stephan Märki und Ko-Regisseurin Chris Comtesse setzen nicht auf Bilderstürmerei oder Aktualisierung, sondern auf die gestisch genaue Umsetzung des von Handlung und Musik Vorgegebenen. Dieser Ansatz nimmt die Menschen ernst, die hier zu sehen sind, und gibt ihnen die Freiheit zu Bewegung und Verdeutlichung.

Dazu trägt der Bühnenraum bei, den Silvia Merlo und Ulf Stengl verantworten. Die beiden zeigen kein provinzielles Goldach, in dem sich Selbsttäuschung und Betrug ereignen, sondern charakterisieren durch wenige zeichenhafte Elemente die Umgebung. Die so sparsam wie zielgenau eingesetzten Videoprojektionen der beiden entfesseln die Fantasie dort, wo es sinnvoll ist: in einer Utopie von Aufbruch und Befreiung ebenso wie in den Angstvisionen, die Strapinski angesichts seiner Entlarvung durchmacht. All dies bietet den Rahmen dafür, soziale Verhältnisse zu verdeutlichen, ohne in Naturalismus zu verfallen. Die Bewegungen auf der Bühne sind zudem bestens synchronisiert mit den Vorgängen im von Alexander Merzyn geleiteten Orchester, das Zemlinskys farbenreiche Partitur zur Geltung zu bringen weiß.

Paul Schweinester gestaltet als schneiderhafter Graf die Bandbreite von Zögern und Auftrumpfen, Resignation und Emphase – alles, was diese Rolle fordert, ohne dabei ins Sentimentale abzugleiten. Anne Martha Schuitemaker steht als Nettchen vor einer kaum lösbaren Aufgabe: Wie singt man ein überkandideltes Mädchen, das sich aus mangelndem Realitätsbezug in einen falschen Grafen verknallt, aber gerade darum zuletzt eine menschliche Zuwendung fühlt, die sie den anderen Goldachern überlegen macht? Das Mangelhafte sollte ja nicht mangelhaft gesungen werden. Schuitemaker gibt Nettchen von Beginn an das große Gefühl, bewahrt so die Figur vor Lächerlichkeit und auch das Humane von Zemlinskys Werk.

Im Einklang mit der Komposition zeigt Todd Boyce den Melchior Böhni keineswegs als rabenschwarzen Schurken. Auch Böhni liebt Nettchen, auch er ist wegen dieser Liebe in Goldach hängen geblieben, auch er ist Außenseiter: wacher Intellektueller unter gutgläubigen Provinzbürgern. Boyce macht glaubwürdig, dass dieser Böhni ein armer Kerl ist, den leider die Ereignisse zwingen, gegen den neuen Eindringling zu kämpfen.

Die Inszenierung ist bis in kleine Nebenrollen gut besetzt, was die Stärke des Cottbuser Ensembles zeigt. Sie bringt ein vernachlässigtes wichtiges Werk und ist vielem, was an besser ausgestatteten Berliner Bühnen zu sehen ist, weit überlegen. Setzen Sie sich also in die Regionalbahn von Berlin – behaglicher als Strapinskis Wanderung ist das allemal.

Nächste Vorstellungen: 28.2., 27.3., 19.4.

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