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»Die Ehrfurcht wich, die Stimmung stieg«
Performancekünstlerin Else Gabriel war 1990 zu einer Werkschau der DDR-Kunst in Paris eingeladen
Else Gabriel, wer war damals 1990 alles bei der Schau in Paris dabei?
200 Männer, Frauen und alles dazwischen: Musiker, Tanz-, Theater- und Modeleute und bildende Künstler aller Gewerke, die die inoffizielle, unangepasste Szene in der DDR repräsentierten. Die Auto-Perforations-Artisten waren dort – Micha Brendel, Rainer Görß, Via Lewandowsky, Else Gabriel und Ratte Elke, 1988 aus einem Labor der Charité befreit, seitdem Performerin. Durs Grünbein war dabei und schärfte in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen meinen Blick für die Details. Wir kamen nach Paris und wurden dort auf Gastfamilien zur Übernachtung verteilt.
Wie ist Ihnen Paris in Erinnerung?
Vor allem die Metro. Wenn es in La Villette mal nichts zu tun gab, war ich unterwegs. Und ein Moment vollkommener Stille, als ich allein in der gigantischen Halle auf meinem Ausstellungsstück, einer Art Stahlsarg, übernachtete. Es war sehr kalt. Spätnachts kam ein Security-Mann. Er breitete wortlos und sacht eine wärmende Wolldecke über Künstlerin und Ratte. Es waren nur zwei, drei Tage und Nächte. Dann war der Spuk vorbei.
Spuk?
Es war unwirklich. Wir kamen als Zombies, als letztes Gefecht eines toten Systems. Wie ein bis dato unbeachteter Dudelsack, noch einmal dick aufgepumpt als Alibi für eine linke Utopie. Im ehemaligen Pariser Schlachthof abgeworfen, tönt es verstörend aus allen Pfeifen gleichzeitig. Bis die Luft raus ist.
Ende Januar 1990 fielen 200 DDR-Künstler in Paris ein. Anlass war die Ausstellung »Das andere Deutschland hinter den Mauern«, eine Initiative von Christoph Tannert. Die erste und letzte Werkschau des DDR-Undergrounds auf dem Gelände der ehemaligen Schlachthöfe La Villette. Zu den Mitwirkenden gehörte auch Else Gabriel, 1962 in Halberstadt geboren. Die Professorin für Bildende Kunst an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee hatte 1982 gemeinsam mit Micha Brendel, Rainer Görß und Via Lewandowsky die Künstlergruppe der Auto-Perforations-Artisten gegründet.
Und was war Ihr Beitrag zur Werkschau?
Wir performten als Gruppe und einzeln. Dafür hatte ich 50 Kilo Hefeteig vor Ort geknetet und 20 Liter Schweineblut bestellt.
Was haben Sie damit gemacht?
An einem Seil eine teigig-blutige Nabelschnur zur höchsten Stelle des sehr hohen Hallendachs gezwirbelt.
Dann wurden Sie zum Präsidentenpalast geladen. Eine Legende sagt, Sie hätten sich im Élysée die Kante gegeben.
Es gab eine hochoffizielle Einladung zum Mittagessen. Um 11 Uhr vormittags wurden 50 oder 60 Kunstschaffende in Busse gesetzt. Wahrscheinlich die, die gerade herumstanden.
Wie ging es weiter?
Wir wurden zum Élysée-Palast chauffiert. Es war unglaublich! Aschenputtel-Else wäre gern in Haute Couture dem Präsidenten direkt in die Arme geschwebt. Real aber kam es zu Verzögerungen. Wir wurden an der Bar geparkt.
Nicht doch!
Die aus ihrem kargen Biotop abrupt in die Stadt der Lichter und nun in diese illustre Lokalität gepfropften Ostgermanen konnten der Versuchung nur kurz widerstehen. Bald wurde munter durchprobiert. Die Ehrfurcht wich, die Stimmung stieg. Als nach fast einer Stunde die große Flügeltür zum Buffet aufsprang, gab es wenig Rücksicht auf die Speisefolge. Kaum wer hatte gefrühstückt, jeder schaufelte von allem auf feinstes Porzellan.
Nicht zu glauben.
Französische Willkommenskultur auf höchstem Niveau! Auf langen Tafeln als Staatsbankett angerichtet: Austern, Muscheln, Terrinen und Pasteten, die ganze Grande Cuisine und bunte Macarons. Und nun mussten die Helden der Cuisine Française mit ansehen, wie eine Horde ostdeutscher Künstler – im unvermeidlichen Parka, mit wirrem Haar und mancher Mann mit Zottelbart und alle hackedicht – über ihr Menü herfiel. Ich sah einen Koch. Einen der vielen. Zur Wand gedreht mit seiner hohen Haube, die Ellenbeuge vor der Stirn, die Schultern bebten. Es flossen Tränen.
Es heißt, manche ostdeutsche Künstler besitzen noch heute Besteck mit dem Signet des Élysée-Palastes.
Ja, es verschwand Inventar in den Umhängebeuteln der ostdeutschen Protagonisten. In meinem nicht. Ich wäre die gewesen, die man ertappt hätte. Dann kam es zum Äußersten: Noch einmal rauschten die imposanten Türflügel und Danielle und François Mitterrand, Präsident der Grande Nation, gaben sich die Ehre und schüttelten klebrige Hände. Er war sehr klein, der Mitterrand, so zart.
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Warum kam der Präsident so spät?
Helmut Kohl forcierte die Wiedervereinigung. Maggie Thatcher war als Premierministerin Großbritanniens strikt dagegen. Die eiserne Lady hielt nun just an jenem Tag im Élysée-Palast Monsieur le Président mit Entschiedenheit und Redebedarf in Bann – und davon ab, die Ostler à l’heure zu empfangen. Damit gab sie unfreiwillig der enthemmten Avantgarde die Gelegenheit, sich des Klischees der edlen Wilden zu entledigen …
Womit die Ossis einen authentischen Eindruck von der DDR gaben.
Bei angemessenerer Etikette hätte man vielleicht gesagt: Guck mal, die DDR, gute Leute, die hier zu Besuch sind. Das sind auch die, die auf der Straße protestierten. Die können eine eigene Regierung hinkriegen. Diese Hoffnung bekam an jenem Tag einen unübersehbaren Knacks. Aber – mal ehrlich: Kunst und Künstler sind in allen politischen Mühlen eine Randerscheinung.
Sie wollten die DDR doch ohnehin verlassen.
Ja, eigentlich gleich nach dem Abitur. Aber ich wollte keinen Ausreiseantrag aus politischen Gründen stellen. Die unvermeidlichen Vorladungen und peinlichen Befragungen fand ich unwürdig. Dieses fortschrittlichste real existierende Weltsystem, das seine Insassen nur mittels Schießbefehl zum Glücklichsein zwingen konnte, war ein verkommener Scheißdreck. Was gab’s da noch zu reden? Man konnte das Prozedere etwas entpolitisieren durch Familienzusammenführung – sprich: qua Ost-West-Heirat.
Hier kommt Max Goldt ins Spiel …
Der Beste von allen! Wir sind zwar nicht mehr verheiratet, aber immer noch sehr eng befreundet.
Wie haben Sie sich kennengelernt?
Ulf Wrede, der Vater meiner beiden Kinder und langjährigster Lebensgefährte, spielte in einer Band. Und Leonhard Lorek, vielfach für die Texte verantwortlich, hatte Kontakte in den Westen und Max Goldt wohl einfach angeschrieben. Max kam aus Neugier mit einem Tagesvisum von West- nach Ostberlin. Es folgten mehrere Besuche und auch gemeinsame Konzerte, bei denen schon mal die Stasi buchstäblich den Stecker zog. Ich schätzte Texte und Musik und wollte Max kennenlernen.
Und wie weiter?
Max wollte Dresden besuchen. Es gab eine Künstlerparty im September 1988. Im Schlepptau hatten wir einen Tross junger Musiker aus Ostberlin. Alle nächtigten in meiner winzigen Wohnung in der Dresdener Neustadt. Und als sich diese Jungs noch um die Kissen balgten, rief Max spontan: »Else, lass uns heiraten! Dann adoptieren wir die alle!« Ich schaltete ausnahmsweise schnell: »Adoptieren, mal sehen. Das mit dem Heiraten bereden wir morgen.« Am nächsten Tag, im Karl-May-Museum Radebeul, nahm in der dazugehörigen »Villa Bärenfett« das Schicksal seinen Lauf: Mit je einem Old-Shatterhand-Button wurde die Verlobung besiegelt.
Ging das so einfach?
Ab da ging das seinen sozialistischen Gang durch die staatlichen Organe. Und natürlich wurde ich dauernd einbestellt zur »Klärung eines Sachverhalts«. Auch war der mir zugeteilten Hobbylektorin vom Ministerium des Inneren noch zu wenig Herzschmerz in der Story. Ich musste mehrfach nachbessern. Zum Schluss habe ich eine Liebesgeschichte gezaubert, die mich beim Verfassen zu Tränen rührte …
Max Goldt ist schwul.
Das adelt den Schmachtfetzen, der alle über 4000 Folgen der ARD-Soap »Sturm der Liebe« in den Schatten stellt.
Hat die Stasi das nicht gewusst?
Keine Ahnung. In meiner Akte steht zu einer meiner Vorladungen: »… lacht unvermittelt auf«, »… trägt schwarze Fingernägel«, »… es verbreitet sich ein Dunst von Alkohol«, »… vermutlich lesbisch«.
Sie sind betrunken zur Vorladung?
Ich wollte nach 27 Jahren endlich aus der DDR entlassen werden und war mittlerweile bedenklich wütend. Mit etwas Wein aus ungarischem Anbau konnte ich das unwürdige Rechtfertigungstheater zum feierlichen Anlass umdeklarieren und vermeiden, auszurasten.
Was ist eigentlich aus der Ratte Elke geworden?
Sie starb im Februar 1990 nach erfülltem Rattenleben und wurde bei einem nächtlichen Zeremoniell auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt. In direkter Nachbarschaft von Brecht. Sie bekam zwei Zeitungsnachrufe: in der »Titanic« und in der »Jungen Welt«.
Die tote Elke liegt bei Brecht?
Elke war Künstlerin im Widerstand und als Wanderratte migrationserfahren, also intersektionaler Diskriminierung ausgesetzt! Aus dem Todestrakt der Versuchsstation in der Charité befreit, aus der DDR ausgereist, in Paris als Künstlerin reüssiert – mehrfach fotografisch porträtiert. Ich schließe diesen Bericht in stillem Gedenken.
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