- Kultur
- Kritik des Antisemitismus
Wut auf das Identische
Eine Veranstaltungsreihe an der Universität Kassel diskutiert die Potenziale eines »interdisziplinären Materialismus«. Aktuelles Thema: Antisemitismus
In Zeiten des Krieges sei es notwendig, Philosophie zu betreiben. Mit diesem Lenin zugeschriebenen Ausspruch begrüßte Philip Hogh, Direktor des Instituts für Philosophie der Universität Kassel, die etwa 50 Anwesenden zum Workshop der Reihe »Interdisziplinärer Materialismus«, welcher am 24. und 25. Januar als Fortsetzung des gleichnamigen Schwerpunkts stattfand. Nach der Auseinandersetzung mit inneren und äußeren Naturverhältnissen im Jahr 2022 und dem Begriff der Arbeit im Jahr 2023, befasste sich die Reihe nun mit den »Elementen des Antisemitismus«.
Für diese Auseinandersetzung bedeutete Hoghs Leninreferenz: In Zeiten des grassierenden Antisemitismus sei es wichtig, sich einen Begriff davon zu machen, womit man es zu tun hat. Der (philosophische) Diskurs über Antisemitismus sei, so Hogh, geprägt von Halbwissen und Unwahrheiten; die sieben Beiträge internationaler Vortragender sollten folglich dazu beitragen, Aufklärung zu leisten.
Von zentraler Bedeutung
Der Veranstaltungstitel knüpft an das Kapitel »Elemente des Antisemitismus« in der Schrift »Dialektik der Aufklärung« von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer an. Mit diesem Text befasste sich zu Beginn Niklas Lämmel. Viele der 1944 veröffentlichten Überlegungen seien trotz veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse auch heute noch von großer Relevanz. Der Begriff der Mimesis – also die Nachahmung dessen, was den Antisemitinnen und Antisemiten »Jude« heißt – könnte etwa erhellen, wie das genozidale Massaker am 7. Oktober 2023 mit dem Vorwurf zusammenhängt, Israel begehe einen Genozid in Gaza. Die zentrale Stellung der »Elemente« in Adornos und Horkheimers Analyse zeigten, dass Zivilisation und Aufklärung nicht vollends begriffen werden können ohne einen Zugang über den Antisemitismus. Denn er verkörpere all das Wahnhafte, das dialektischer Teil der Vernunft ist, und zeige so, dass die Aufklärung am Antisemitismus an ihre Grenzen gelangt – »Grenze« im doppelten Sinne: Antisemitismus verweigere sich der Aufklärung und im Antisemitismus werde das Unzureichende einer undialektischen Aufklärung deutlich.
Im Anschluss befasste sich der Sozialphilosoph Titus Stahl mit Axel Honneths »Pathologie der Vernunft« und Rahel Jaeggis »regressiven Lebensformen«. Beide Ansätze fassten Antisemitismus lediglich als Resultat einer Blockade der Vernunft. Zwar herrschte Einigkeit über die Unzulänglichkeit, den Antisemitismus so adäquat begreifen zu können. Doch auch Stahls Versuch, beide Konzepte für eine Antisemitismuskritik nutzbar zu machen, stieß auf wenig Zustimmung. Ein Vorwurf: Der Versuch folge mehr politisch-instrumentellen Überlegungen denn der Erkenntnis.
Mit der Absicht, das Intersektionalitätskonzept zu retten, stellte die Soziologieprofessorin Karin Stögner zum Anschluss des ersten Tages den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Rassismus heraus. Rassismus, so Stögner, wende sich gegen die erste Natur, die in rassifizierte Menschen projiziert werde; der Antisemitismus gegen die zweite Natur, das Abstrakte, das in den »Juden« projiziert werde. Gemeinsam sei Rassismus und Antisemitismus der Hass gegen eine äußere Herrschaft und der Versuch, dieser durch Ausbeutung (im Rassismus) oder Vernichtung (im Antisemitismus) Herr zu werden. Habe sich der Rassismus im Laufe des 20. Jahrhunderts von biologischen zu kulturellen Zuschreibungen gewandelt – gemeinhin spricht man vom »Rassismus ohne Rassen« –, so sei der Antisemitismus vom Hass gegen einzelne Jüdinnen und Juden auf den jüdischen Staat Israel übergegangen – »Antisemitismus ohne Juden«.
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Bereits die Antwort auf die erste Rückfrage, weshalb auch in queeren Communities der israelbezogene Antisemitismus weit verbreitet ist, offenbarte jedoch eine Leerstelle. Stögner zeigte sich selbst verwundert über die Tatsache, dass sich Teile dieser Communities trotz ihres Lobs für das Nicht-Identische dennoch nicht solidarisch mit Israel zeigen. Der Wut auf das »zu Identische« im postmodernen Antisemitismus scheint in Stögners Ansatz kaum eine Berücksichtigung zu finden. Dass vielleicht gerade die im Queerfeminismus zentralen Überlegungen zu Zerstreuung und Unbestimmtheit mit einem Hass auf das »identische« Israel zusammenhängen, wie man es etwa bei Judith Butler beobachten kann, lässt sich mit der Abwehr der zweiten Natur, also des Abstrakten, nicht gänzlich greifen. So wird Israel aus diesen Kreisen seltener vorgeworfen, ein zu abstrakter »künstlicher Staat« zu sein, als vielmehr ein zu identischer »Ethnostaat«.
Abwehr und Umdeutungen
Indirekt nahm die Sozialphilosophin Julia Christ am darauffolgenden Vormittag genau diesen Zusammenhang wieder auf. Als Redakteurin der französischen Zeitschrift »K. La revue« berichtete sie von der Selbstverständlichkeit, mit der französische Intellektuelle ihren Antizionismus als moralische Notwendigkeit verteidigten. Christ stellte fest, dass es sich beim Antizionismus jedoch weder um eine sozioökonomische Kritik noch um eine Ideologiekritik oder eine plausible Kritik an einem Nationalismus speziell des jüdischen Volkes handele. Die »merkwürdige Ablehnung des jüdischen Nationalismus«, so hielt Christ überzeugend fest, sei auf die antisemitische Vorstellung zurückzuführen, ein souveränes Judentum würde unter allen Umständen Unrecht hervorbringen.
Als Erklärung, weshalb gerade linke westliche Intellektuelle an diesen Vorstellungen festhielten, bot Christ zwei Hypothesen. Erstens: Das Konzept des geschlossenen Nationalstaates sei nach 1945 zunehmend allgemein als Unrecht wahrgenommen worden. Dies führte jedoch nicht etwa zu dessen Rückbau, sondern in eine neue Rhetorik der Demokratie ohne souveränen Nationalstaat. Der so notwendig entstehende Konflikt zwischen struktureller Notwendigkeit und öffentlicher Denunzierung des Nationalstaats werde auf Israel projiziert. Denn Israel vereine mit den breiten innerstaatlichen Protesten vor und dem Zusammenschluss von Bevölkerung und Staat nach dem 7. Oktober identische und nicht-identische Momente. Zweitens beobachtete Christ in westlichen Gesellschaften den Anstieg eines moralischen Selbstbildes. Nicht umsonst, so Christ, betonen Antizionistinnen und Antizionisten stets ihre Verbundenheit zu Jüdinnen und Juden. Die Existenz Israels kratze an der Selbsteinschätzung als moralisch integer, als nicht antisemitisch. Denn wenn die Existenz Israels aufgrund des weltweiten, auch europäischen, Antisemitismus notwendig sei, so wäre damit ein indirekter Vorwurf an all jene verbunden, die sich einbilden, »aus der Geschichte gelernt« zu haben. Antizionismus, so könnte man schlussfolgern, sei damit auch eine Abwehrstrategie gegen den impliziten Vorwurf des Antisemitismus.
Der Diskurs über Antisemitismus sei, so Hogh, geprägt von Halbwissen und Unwahrheiten.
Die Soziologin Johanna Bach befasste sich ausgehend von Richard Wagners Blick auf das Judentum mit antisemitischer Gefühlstheorie. Für Wagner waren Jüdinnen und Juden nicht fähig, Gefühle zu empfinden – sie seien zu kalt und könnten in der Kommunikation mit Nicht-Juden echte Gefühle lediglich unauthentisch nachahmen. Die denunzierte »jüdische Arbeit« sei daher nicht als jüdisch aufgefasst worden aufgrund ökonomischer Kriterien, sondern wegen des angeblich fehlenden warmen, empathischen Gefühls, welches Deutsche beim Arbeiten empfänden. Nicht erst diese Zuschreibung sei verkehrt, so Bach, bereits die Annahme, Gefühle als angeblich unmittelbare Wahrheit reichten aus für eine Welterklärung, sei zurückzuweisen. Gefühle seien stets gesellschaftlich.
Die Differenzierung zwischen vermeintlich jüdischer und deutscher Arbeit griff auch der letzte Redner der Workshop-Reihe auf. Der Historiker und Sozialphilosoph Nikolas Lelle zeichnete nach, dass der deutsche Arbeitsbegriff nicht von antisemitischen Weltdeutungen zu lösen sei. Die bereits von Niklas Lämmel angesprochene pathische Projektion zeige sich in der Markierung von Jüdinnen und Juden als unproduktiv: Der Vorwurf des »Lohns ohne Arbeit« offenbare die Unzufriedenheit der Antisemitinnen und Antisemiten mit dem Zwang, ihr eigenes Leben der Lohnarbeit opfern zu müssen.
Gegenwärtige Philosophie
Die vielschichtigen Annäherungen an den Antisemitismusbegriff und die Diskussionen auf durchweg hohem Niveau dürften dazu beigetragen haben, die Notwendigkeit der gemeinsamen Organisation einer vom Antisemitismus ausgehenden Gesellschaftskritik zu stärken, wie Hogh das Ziel der Workshop-Reihe skizzierte. Gleichzeitig wurden die Grenzen eines Unterfangens deutlich, manche Ansätze durch einen undogmatischen Zugang zu synthetisieren. Das »rettende« in der rettenden Kritik schien an der ein oder anderen Stelle zu hoch gehängt worden zu sein.
Demgegenüber verdeutlichte gerade Julia Christs Fokus auf den gegenwärtigen Antizionismus, wohin die Antisemitismuskritik sich bewegen könnte: Ohne ökonomiekritische und vernunftkritische Ansätze beiseiteschieben zu müssen, wäre vorrangig mit der »Wut auf das Identische« sich zu befassen. Diese zusammenzudenken mit der bereits gründlich erforschten Wut auf das Abstrakte, scheint eine der wesentlichen Aufgaben für eine kritische Theorie des Antisemitismus der kommenden Jahre zu werden.
Bereits für Herbst dieses Jahres soll im Rahmen des Forschungsschwerpunktes »Interdisziplinärer Materialismus« die nächste Workshop-Reihe stattfinden – dieses Mal zum Thema Erinnerungskultur. Womit sich die darauffolgenden Reihen befassen werden, konnte Philip Hogh noch nicht voraussagen, möchte das Institut doch gerade in aktuelle Problemlagen eingreifen. Für eine politische Praxis, so betont Hogh, bedarf es einer gegenwärtigen – nicht bloß überhistorischen – philosophischen Reflexion.
Timon Wißfeld ist Kommunikationsdesigner und beschäftigt sich mit der Gestaltung von Erinnerung und Gedenken mit einem Fokus auf Antisemitismuskritik.
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