Vor 80 000 Türen in Neukölln: Ferat Koçak will in den Bundestag

Die Neuköllner Linke will an 80 000 Haustüren klopfen und so ein Direktmandat für Ferat Koçak gewinnen

  • Noral Noll
  • Lesedauer: 8 Min.
Koçak betrachtet den Wahlkampf als Überlebenskampf, nicht nur der Partei, sondern der gesellschaftlichen Linken insgesamt.
Koçak betrachtet den Wahlkampf als Überlebenskampf, nicht nur der Partei, sondern der gesellschaftlichen Linken insgesamt.

Wenn Ferat Koçak etwas besonders gut kann, sind es Gespräche. An einem Donnerstagabend steht er im Treppenhaus eines schick renovierten Altbaus in der Nähe der Karl-Marx-Straße in Neukölln und spult seine Standard-Begrüßung ab: »Hallo, wir sind Ferat und Anton von der Linken Neukölln, wir wollen wissen, was die Menschen in Neukölln bewegt.« Die Anwohnerin steht unschlüssig im Türrahmen, sagt »Ich wähl euch sowieso« und möchte schon wieder in die Wohnung verschwinden. Aber Koçak spinnt das Gespräch weiter, fragt nach: »Was würdest du denn machen, wenn du Bundeskanzlerin wärst?« »Reiche besteuern und Mieten runter«, antwortet die Frau, lacht und öffnet die Tür ganz.

Die Neuköllner Linke hat ein großes Ziel: Sie will bei den Bundestagswahlen am 23. Februar Ferat Koçak per Direktmandat in den Bundestag schicken. Ein linkes Direktmandat in Neukölln, das hat es noch nie gegeben. Vor allem in Süd-Neukölln wohnt eine traditionell starke CDU- und SPD-Wählerschaft. Bei den Bundestagswahlen 2021 gewann die SPD den Bezirk mit 23,9 Prozent der Zweitstimmen, das Direktmandat holte sich Hakan Demir (SPD) mit 25,8 Prozent. Auch 2017 ging das Direktmandat an die SPD. Bei den Wahlen zuvor lagen immer entweder die SPD oder die CDU vorne. Die Linken erreichten 2021 bei den Zweitstimmen 11,9 Prozent, die damalige Direktkandidatin Lucia Schnell kam auf 12,9 Prozent. Deutlich mehr als im Bundesdurchschnitt – aber nicht genug. Vor Schnell lagen noch die Mitbewerber*innen von Grünen (Andreas Audretsch: 19,7 Prozent) und CDU (Christina Schwarzer: 19,2 Prozent). Demir und Audretsch gilt es auch in zwei Wochen zu schlagen. Die CDU hat die Bundestagsabgeordnete und Generalsekretärin der Berliner CDU Ottilie Klein aufgestellt.

Auch wenn Die Linke in jüngsten Umfragen die Fünf-Prozent-Hürde knackt, bleibt der Einzug in den Bundestag unsicher. Für eine Rettung durch die viel beschworenen drei Direktmandate sollen Bodo Ramelow, Gregor Gysi und Ines Schwerdtner in ihren traditionell linken Wahlkreisen sorgen. Von einem Wahlsieg in Neukölln wird bislang wenig geredet.

Das »Team Ferat« glaubt dafür umso mehr an den Erfolg. Das Zauberwort: Haustürwahlkampf. Zozan Bulut gehört zu Koçaks Wahlkampfteam und klickt an einem Donnerstagnachmittag durch eine Powerpoint-Präsentation. Im Wahlkampfbüro sitzen zehn neue Wahlkämpfer*innen, Bulut erklärt ihnen den Plan: »Hinter jeder zehnten Tür steckt eine Wahlzusage. Deswegen ist es unser Ziel, an 80 000 Türen zu klopfen.« 8000 Erststimmen würden zwar allein nicht für das Direktmandat reichen, die SPD gewann ihr Direktmandat 2021 mit 33 880 Erststimmen. Doch sie könnten in einem möglicherweise knappen Rennen den entscheidenden Unterschied machen.

Bulut hat ein paar weitere Zahlen parat. Sie weist auf aktuelle Umfrageergebnisse aus Neukölln hin. Die Parteien haben sich im Vergleich zur vorherigen Bundestagswahl angeglichen, SPD und CDU liegen etwa gleichauf. »Es hat noch nie so wenige Erststimmen gebraucht, um ein Direktmandat zu gewinnen«, sagt Bulut. Zugleich sind insbesondere die Konkurrenzparteien Grüne und SPD nicht auf ein Direktmandat in Neukölln angewiesen, denn die Kandidaten Hakan Demir und Andreas Audretsch werden dank ihrer Listenplätze voraussichtlich ohnehin im Bundestag landen. Das BSW hat niemanden aufgestellt.

Auf dieser Rechnung beruht das Hauptargument, das Ferat Koçak an jeder Haustür vorbringt, egal wie wenig Zeit das Gegenüber gerade hat: Erststimmen an Grüne und SPD wären im Grunde verschenkt, eine Erststimme für ihn könnte hingegen beeinflussen, ob Die Linke in den Bundestag einzieht – und das wiederum würde dafür sorgen, dass der AfD im Verhältnis weniger Sitze zustünden und damit auch weniger Geld. Am Donnerstagabend hat er mit der Argumentation Erfolg. »Das ist ein guter Punkt, das war mir so noch gar nicht bewusst«, sagt die Altbau-Bewohnerin. »Ich habe schon mit Freunden geredet, die auch links sind, und die aus strategischen Gründen Grün wählen wollten.«

Koçak und Anton auf dem Weg durch Neuköllns Altbauten
Koçak und Anton auf dem Weg durch Neuköllns Altbauten

Die zweite Chance sieht das »Team Ferat« bei den Nichtwähler*innen. Davon gibt es in Neukölln viele: Bei den Bundestagswahlen 2021 gaben 32 Prozent der Wahlberechtigten keine Stimme ab, deutlich mehr als der Bundesdurchschnitt von 24 Prozent. »Das ist eine Zielgruppe, die wir ganz klar ansprechen wollen«, sagt Zozan Bulut während ihrer Präsentation. Bulut ist persönliche Mitarbeiterin von Elif Eralp, Sprecherin für Migration, Partizipation und Antidiskriminierung der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Auf der nächsten Folie erscheinen zwei Karten von Neukölln, einmal mit grün, einmal mit blau eingefärbten Bereichen. Die grüne Karte zeigt die Wahlbeteiligung an, je grüner, desto höher, die blaue den Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, je blauer, desto höher. Legt man die beiden Karten aufeinander, zeigt sich deutlich: In den migrantischen Communitys wird besonders wenig gewählt.

Um diese Nichtwähler*innen zu erreichen, betont die Kampagne der Neuköllner Linken den Unterschied zu »normalen« Politiker*innen: keine Politik von oben, sondern an den Sorgen der Menschen orientiert. Als Beispiel dient die Stadtteilversammlung, von der Linken mitorganisiert und ein Ort, wo auch Nachbar*innen ohne Wahlrecht mitreden können. Als Beispiel sieht sich auch Koçak selbst. Er deckelt sein Nettogehalt als Abgeordneter im Berliner Abgeordnetenhaus auf 2500 Euro im Monat, der Rest fließt in einen Sozialfonds. Bürger*innen mit Geldnöten können zu seiner Sozialsprechstunde kommen und Unterstützung erhalten. »Wir müssen den Menschen zeigen: Wir sind dabei, ein solidarisches Netzwerk aufzubauen«, sagt Koçak. Nicht um ihn gehe es, sondern um das gemeinsame Projekt. »Ich sehe den Wahlkampf auch als Überlebenskampf. Nicht nur von der Partei, sondern von der gesellschaftlichen Linken.«

Um tatsächlich genug potenzielle Wähler*innen anzusprechen, gehen die Wahlkämpfer*innen systematisch vor. Kleingruppen sind für die Koordination der Haustürbesuche in einer bestimmten Gegend zuständig. Nach getaner Arbeit tragen sie in der »Aktivisti App« ein, bei welchen Häusern wie viele Türen geöffnet wurden, wie viele gute Gespräche sie geführt haben und wo es eine Wahlzusage gab. An zwei Aktionswochen sollen außerdem mehrere Hundert Unterstützende aus ganz Deutschland anreisen und zusammen mit den Berliner Aktiven um die Häuser ziehen – eine linke Klingelwelle sozusagen.

Für die Haustürgespräche hat das »Team Ferat« einen Leitfaden erstellt. Zum Einstieg soll es um die Sorgen und Bedürfnisse der Leute gehen. Dann der Schwenk zu den politischen Schwerpunkten, die Koçak im Wahlkampf setzt: zu hohe Mieten und Lebenshaltungskosten, dreckige Kieze und unzuverlässiger Nahverkehr. Diese Themen hat sich Koçak nicht selbst ausgedacht, sie sind das Ergebnis einer Haustüraktion im vergangenen November. Da fragte die Neuköllner Linke ihren Wahlkreis, welche Themen die Menschen besonders umtreiben. Auch das ein Versuch, es anders zu machen, sagt Koçak. »Am Ende haben die meisten Neuköllner sehr ähnliche Sorgen.« Es komme darauf an, ihnen zuzuhören und sie ernstzunehmen.

Das betont auch Bulut am Ende des kurzen Briefings, bevor sich fünf neue Tandems, ausgestattet mit Flyern, Klemmbrett und frischer Motivation, auf Mission begeben. »Am besten 70 Prozent zuhören und 30 Prozent sprechen.« Von zu hohen Mieten ließe sich das Gespräch gut auf soziale Ungerechtigkeit und Verteilungsfragen lenken, irgendwann sollte es darum gehen, wer überhaupt die Verantwortung für die Probleme trägt. Und am Ende des Gespräches dann die Frage: »Kannst du dir vorstellen, Ferat Koçak am 23. Februar zu wählen?«

Die Idee, bei Haustürgesprächen eine Vereinbarung zu treffen, kommt aus dem Organizing. Es geht dabei um Strategien, wie sich linke Ideen in der Basis verankern lassen, um zum Beispiel Gewerkschaften zu stärken oder Menschen für eine politische Bewegung zu mobilisieren. Wer aktiv Ja zu etwas sagt, sich vielleicht sogar noch in eine Liste einträgt, der wird mit höherer Wahrscheinlichkeit die Zusage auch einhalten – so die psychologische Annahme dahinter. Vereinbarung, Gesprächsleitfaden, Aktionswochen, dezentrale Orga: Das alles sind Organizing-Ansätze. Die Linke nutzt sie nicht zum ersten Mal im Wahlkampf. Das »Team Ferat« hat sich vom Erfolg des Leipziger Landtagsabgeordneten Nam Duy Nguyen inspirieren lassen. Dessen Team klingelte bei rund 49 000 Haushalten, führte 14 000 Gespräche und gewann mit einem deutlichen Vorsprung von rund 20 Prozentpunkten das Direktmandat. »Nach Nams Erdrutschsieg glauben wir fest daran, dass wir es auch hier in Neukölln schaffen können«, sagt Bulut.

Das überzeugendste Argument, an einen Überraschungssieg zu glauben, bleibt Ferat Koçak selbst. Er ist in Neukölln aufgewachsen, als einziger der Direktkandidat*innen. Unter dem Kürzel @der_neukoellner informiert er seit Jahren in den sozialen Medien über Antifaschismus und Kommunalpolitik, mittlerweile folgen ihm auf Instagram über 65 000 Menschen. Als Mitglied des Abgeordnetenhauses kennt er sich mit Berlins Sorgen aus und kann aus dem Stegreif über Kürzungspolitik, Racial Profiling oder das Sperrmüllproblem reden. Er zeigt authentische Empörung über Israels Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg, ein Thema, das viele Menschen in Neukölln bewegt. Er geht auf Demos und blockiert Nazis, dadurch hat er Bewegungslinke hinter sich.

Vor allem aber ist er gut mit Menschen. Er hat Witz, als ein Anwohner die Aktion Silberlocke der Linken erwähnt, sagt er: »Ich bin Aktion Schwarzkopf.« Er füllt Gesprächslücken, erzählt von sich ohne eine innere PR-Abteilung, er hört zu und erzeugt mit nur wenigen Sätzen ein Gefühl von Freundschaft, von Verbündet-Sein.

Als er an jenem Donnerstagabend den Altbau verlässt, kommt ein Mann auf ihn zu und ruft: »Mahlzeit, Bruder!« Die beiden umarmen sich kurz. »Was geht?« Koçak drückt dem Mann einen Flyer in die Hand. »Sag mal deinen Leuten, dass sie mich wählen sollen, Erststimme.« Der Mann zögert kurz, Politik sei ja Privatsache, dann gibt er Koçak doch einen Handschlag, vielleicht eine Zusage, und geht weiter. Woher sich die beiden kennen? »Ich kannte den gar nicht«, sagt Koçak.

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