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Bürokratieabbau: Krieg dem Papierkram
Im Wahlkampf haben die Parteien einen alten Schlager neu aufgelegt: Bürokratieabbau. Gemeint ist damit häufig schlicht weniger Umweltschutz
Die deutsche Wirtschaftsleistung stagniert – und das hält ein Kapitalstandort nicht aus. Politiker*innen sehen Deutschland am Abgrund. Konservative und Liberale fordern eine »Wirtschaftswende«, die im Wesentlichen besteht aus Steuersenkungen vor allem für Wohlhabende, aus einigen Sozialkürzungen und dem Versuch, Energie zu verbilligen. Eine prominente Position nimmt daneben ein Evergreen der politischen Debatte ein – der Bürokratieabbau. Daraus spricht eine gewisse Hilflosigkeit der Politik. Denn weder ist »Bürokratie« das Hauptproblem der Unternehmen, noch sind die Bürokratiekosten in letzter Zeit gestiegen – und ihr Abbau löst auch nicht das zentrale Dilemma des Standortes Deutschland: die wachsende Konkurrenz mit den USA und China.
Lange stand die schwache deutsche Wirtschaft im Zentrum des Wahlkampfs, und die CDU gilt in der Bevölkerung als die Partei mit der größten Wirtschaftskompetenz. Auch deswegen liegt sie in Umfragen weit vorn. Mit seiner Initiative zur weiteren Verschärfung des Asylrechts allerdings hat CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz »den Fokus auf die Migrationspolitik und damit auch den Umgang mit der AfD verschoben«, so die Commerzbank. Bleibe dies so, »könnte dies das Stimmungsbild noch einmal merklich verschieben«.
Dennoch dürfte die CDU den kommenden Kanzler stellen und Merz hat seine Agenda kürzlich so umrissen: »Jeder Tag, jede Entscheidung meiner zukünftigen Regierung wird nur eine einzige Frage haben: Ist sie gut für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie?« Diese Wettbewerbsfähigkeit sieht er also als eine Querschnittsaufgabe, zu der sämtliche Ressorts beizutragen haben. An vorderster Front steht dabei das Ressort, das die Gelder zuteilt: das Finanzministerium. Wie FDP und AfD plant die CDU Steuersenkungen vor allem für Wohlhabende und Unternehmen. Im Gegenzug müssen andere verzichten. Ein Teil des Sparvolumens soll laut CDU durch Kürzungen beispielsweise beim Bürgergeld hereinkommen, ein anderer Teil durch den Abbau von Bürokratie.
Was ist Bürokratie?
Laut einer Umfrage unter Managern müssen Angestellte 22 Prozent ihrer Arbeitszeit für bürokratische Tätigkeiten aufwenden, berichtet das Wirtschaftsforschungsinstitut Ifo. Die Führungskräfte beklagten »ausufernde Berichts- und Informations-, Dokumentations- und Meldepflichten«. Laut Ifo-Institut »entgehen Deutschland durch die überbordende Bürokratie bis zu 146 Milliarden Euro pro Jahr an Wirtschaftsleistung«. Alle Nachweis- und Dokumentationspflichten, Berichtspflichten und Statistikmeldungen, alle ständigen Gesetzesänderungen, Datenschutzvorgaben und langwierigen Verwaltungsverfahren gehörten auf den Prüfstand.
Der Klage der Führungskräfte kommt die Politik nach. »Um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu stärken«, so Merz, müssen »wir die überbordende europäische Bürokratie substanziell zurückbauen.« Die FDP beklagt das »immer weiter wuchernde Regulierungs- und Bürokratiedickicht, in dem der Unternehmergeist erstickt«. Auch Grünen-Kandidat Robert Habeck findet: »Bei der Bürokratie muss man energischer rangehen.«
Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hat in Kooperation mit der »Süddeutschen Zeitung« untersucht, wie sich Forderungen von Parteien zur Bundestagswahl auf verschiedene Privathaushalte finanziell auswirken würden. Betrachtet wurden Vorschläge zur Einkommen- und Vermögensteuer, zum Solidaritätszuschlag sowie zum Bürgergeld, Mindestlohn und Klimageld. Die Auswertung konzentriert sich auf Forderungen, deren Wirkung für einzelne Haushalte bezifferbar ist.
Das ZEW hat für seine Untersuchung Wahlprogramme zugrunde gelegt, wo dies möglich war. Wenn diese nicht konkret genug waren, »wurden plausible Annahmen auf Basis von aktuellen Anträgen und Positionspapieren getroffen«, so das Mannheimer Institut. Nicht berücksichtigt worden seien Vorschläge, etwa zur Mehrwertsteuer, die nicht an den verfügbaren Einkommen, sondern der Kaufkraft ansetzen.
Beim Bürokratieabbau geht es also erstens darum, den Unternehmen Personalkosten zu ersparen und ihnen zweitens durch die Abschaffung oder Abschwächung von Vorschriften neue Geschäftsmöglichkeiten zu eröffnen. Allerdings, so die niederländische Großbank ING, bleibe bei den Bürokratieabbauplänen der Parteien »häufig unklar, wie das geschehen soll«. Das dürfte daran liegen, dass der verhasste Papierkram – trotz seines schlechten Rufes – häufig seinen Sinn hat. Schließlich ist Bürokratie nichts anderes als eine Reihe von Regeln und Vorschriften und Prozessen, die die Gesellschaft organisieren, die Rechtssicherheit und Berechenbarkeit schaffen und die insbesondere die Unternehmen dazu bringen sollen, gesellschaftsschädliche Praktiken zu unterlassen,von der Belastung der Umwelt bis zur Schädigung der Konsument*innen.
Deregulierung = mehr Wachstum?
Die Scheidung zwischen nützlichen und unnützen Regeln ist daher nicht trivial und eine rein quantitative Beschränkung nach dem Muster »eine Regel statt zwei« schwierig – weniger Regeln bedeuten weniger Kontrolle. Kürzere Genehmigungsverfahren bedeuten weniger Prüfung. »Es besteht die allgemeine Annahme, dass jede staatliche Deregulierung das Wirtschaftswachstum fördert«, so Paul Donovan, Chefvolkswirt der Schweizer Großbank UBS. »Dies ist nicht automatisch richtig.« So könne eine Deregulierung beim Verbraucherschutz zum Beispiel schlicht die Gewinne erhöhen, aber nicht das Wachstum. »Umweltvorschriften wiederum«, erklärt Donovan, »sind zwar eine direkte kurzfristige Einschränkung der Wirtschaftstätigkeit, ihre Abschwächung kann zu einer Steigerung der Wirtschaftstätigkeit führen.« Allerdings eben auch zu künftigen Kostenbelastungen durch eine verschmutzte Umwelt.
So differenziert betrachtet der CDU-Kanzlerkandidat die Lage allerdings nicht. »Die überbordende Regulierung und Bürokratie«, so Merz, »sind heute der Hauptgrund dafür, dass die Produktivität der EU immer weiter hinter die der USA und Chinas zurückfällt« – eine fragwürdige Aussage. Denn erstens ist der Bürokratieaufwand gar nicht so riesig und zweitens ist er bereits gesenkt worden. Das zeigt die Entwicklung des Bürokratiekostenindex (BKI), den das Statistische Bundesamt erhebt. Der BKI misst laut Bundesamt die Aufwände bei der Erledigung des klassischen »Papierkrams«. Dazu gehörten das Stellen von Anträgen, Durchführen von Meldungen, Kennzeichnungen, Meldungen zu Statistiken oder die Erbringung von Nachweisen.
pro Jahr, in Milliarden Euro
Laut BKI entstanden den Unternehmen daraus 2024 rund 67 Milliarden Euro Kosten, das entsprach 1,2 Prozent ihres Umsatzes. 2012 lag dieser Wert noch bei 1,6 Prozent. Auch das Ifo-Institut kommt in einer eigenen Schätzung zu dem Schluss, dass sich in Sachen Bürokratieaufwand in den letzten 15 Jahren nicht viel getan hat. Dennoch, fordert die CDU in ihrem Wahlprogramm, »müssen wir noch weiter gehen und noch mutiger sein«.
Friedrich Merz ordnet den Klimaschutz dem Wachstum unter und setzt das Wachstum als Bedingung für den Klimaschutz.
Der »Mut« zeigt sich bei der CDU, aber auch bei FDP und AfD, insbesondere darin, Bürokratieabbau als Abbau von Umwelt- und Klimaschutzvorschriften zu bewerben. Als »übertrieben und belastend« bezeichnen Union und FDP zum Beispiel die Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (CSRD) oder die Richtlinie über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen (CSDDD). Beide will die CDU für mindestens zwei Jahre ausgesetzt sehen, ebenso wie die EU-Taxonomieverordnung und den CO2-Grenzausgleichsmechanismus.
Worüber Unternehmen klagen
Auch das Zurückdrängen des Verbrennermotors fällt bei immer mehr Politiker*innen unter »Bürokratie«. »Der Beitrag zum Klimaschutz darf nicht der Maßstab sein, nach dem Unternehmen und Produkte in ihrer Werthaltigkeit politisch beurteilt werden«, fordert Merz und dreht die Gleichung um: Nicht das Klima muss vor den Folgen des Wirtschaftswachstums geschützt werden, vielmehr werden »wichtige gesellschaftliche Ziele« wie der Schutz des Klimas »nur erreicht, wenn die Leistungsfähigkeit der Unternehmen insgesamt ansteigt«. Im Klartext ordnet Merz also den Klimaschutz dem Wachstum unter und setzt das Wachstum (»wirtschaftliche Nachhaltigkeit«) als Bedingung für den Klimaschutz – auch das läuft unter dem Titel Bürokratieabbau.
nach Einkommensgruppen – jährliches Bruttoeinkommen
Dieses Abbauprogramm aber wird die deutsche Konjunktur nicht retten. Denn die großen Herausforderungen sind die digitale und die ökologische Transformation der Industrie, die Elektrifizierung von Wirtschaft und Gesellschaft, das Rennen um Künstliche Intelligenz, Batterien, Elektroautos und anderes. Worunter deutsche Firmen vor allem klagen, ist ein überfüllter Weltmarkt: Es fehlt an Aufträgen. Zu den Faktoren, die aktuell das Geschäft einschränken, zählen laut Ifo-Umfrage 35 Prozent der Unternehmen die Nachfrage, dahinter folgt der Mangel an Arbeitskräften und dann die finanziellen Bedingungen.
Dass die zahlungsfähige Nachfrage der knappe Faktor auf dem Weltmarkt ist, weiß auch Merz, wenn er festhält, dass »unser Wohlstand auch in Zukunft vom Export abhängig bleibt«, also vom Zugang zu den Märkten der Welt. Diesen Zugang und seine Bedingungen aber kann auch eine CDU-geführte Bundesregierung nicht allein gestalten, sie bleibt abhängig von Entscheidungen, die anderswo getroffen werden – in Washington und Peking. Als Risiken für die deutsche Wirtschaft listet die Bank ABN Amro auf: »Importzölle bedrohen die deutsche Wirtschaft, die US-Regierung lockt europäische Unternehmen mit Vergünstigungen nach Amerika, die Kooperation mit Russland ist keine Option mehr, und China ist von einem Käufer deutscher Waren zu einem ausgewachsenen Konkurrenten geworden.«
Von daher ist es nachvollziehbar, dass alle großen deutschen Parteien sich der militärischen Aufrüstung verschrieben haben. Denn Wirtschaftspolitik hilft hier nicht weiter. »Weniger Bürokratie, einige Steuersenkungen zur Ankurbelung von Ausgaben und Investitionen, möglicherweise Versuche zur Senkung der Energiekosten und Investitionen in die Infrastruktur - all das sind Wachstumsbeschleuniger für die Wirtschaft, zumindest vorübergehend«, erklären die Ökonomen von ING. »Ob diese Maßnahmen im Wettbewerb mit China und den USA wirklich ausreichen werden, ist eine ganz andere Frage.«
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