- Wirtschaft und Umwelt
- Verteilungsgerechtigkeit
»Gerechtigkeitsbündnis« auf dem Prüfstand
Gesetze für eine solidarische Verteilung von Löhnen und Renten konnte die Ampel nicht mehr umsetzen. Verbesserungen punkto Inklusion traten in Kraft
Der Begriff »Fortschrittskoalition« setzte sich – zum Teil ernsthaft, zum Teil ironiebehaftet – als Bezeichnung der Ampel-Regierung durch. In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich SPD, Grüne und FDP auch als »Bündnis für Gerechtigkeit« bezeichnet. Als neu gewählter Bundeskanzler kündigte Olaf Scholz (SPD) in seiner Regierungserklärung im Dezember 2021 an, die Ampel würde eine »Regierung des sozialen Fortschritts«. Respekt, Gerechtigkeit und Lebenschancen für alle seien »die Voraussetzung« wirtschaftlicher Stärke.
De facto lag der Gini-Koeffizient, der Aufschluss über die Vermögensverteilung gibt, 2023 bei 0,76. 2021 hatte er noch einen Wert von 0,73. Die Ungleichheit ist demnach gestiegen, im EU-Vergleich sind Vermögen nur in Österreich ungleicher verteilt als in Deutschland.
In einer Kleinen Anfrage, die »nd« exklusiv vorliegt, erfragte die Gruppe die Linke im Bundestag kurz vor den Neuwahlen eine Bilanz punkte Verteilungsgerechtigkeit. Die Kurzfassung der Antwort aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS): Einige Vorhaben setzte die Bundesregierung »aufgrund der verkürzten Legislaturperiode« nicht um, in manchen Bereichen fehlen wichtige Daten, im Bereich Inklusion gab es Fortschritte, für die das BMAS konkrete eigene Maßnahmen nennen kann.
Arbeitsrecht
Den fortlaufenden Rückgang der Tarifbindung beobachte die Bundesregierung laut Beantwortung der Anfrage »aufmerksam«. 2023 war die Zahl der Unternehmen mit Tarifvertrag auf nur noch 24 Prozent gesunken – ein Prozentpunkt weniger als im Vorjahr. In Ostdeutschland lag der Anteil mit 17 Prozent weiterhin unter dem in Westdeutschland (25 Prozent).
Den Entwurf des Bundestariftreuegesetzes, das Nachteile tarifgebundener Unternehmen im Wettbewerb um öffentliche Aufträge ausgleichen sollte, beschloss das Bundeskabinett, verabschiedet wurde es aber nicht mehr. Dem von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vorgelegten Gesetzentwurf zufolge sollen Unternehmen, die Aufträge von mehr als 25 000 Euro für die Bundesregierung übernehmen, ihren Beschäftigten für die Dauer des Auftrags tarifvertragliche Arbeitsbedingungen gewähren. Das wären Standards bei Entlohnung, Mindestjahresurlaub sowie Höchstarbeits-, Ruhe- und Pausenzeiten gewesen.
Auch die Behinderung der betrieblichen Mitbestimmung als Offizialdelikt sollte im Tariftreuegesetz umgesetzt werden und trat demnach nicht mehr in Kraft. Offizielle Zahlen dazu kann die Regierung nicht liefern. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung nimmt an, dass Mitbestimmungsvermeidung und -ignorierung seit 2019 immer weiter zunimmt. Ähnlich sieht es mit der Einhaltung des Arbeitsrechts bei Mini-Jobs aus, die die Bundesregierung stärker kontrollieren wollte. Die Arbeitsstatistik der Finanzkontrolle Schwarzarbeit ermöglicht keine entsprechende Auswertung, eine Prüfung ist demnach nicht umsetzbar.
Geschlechtergerechtigkeit
2023 betrug die bereinigte Lohnlücke, der Unterschied im Verdienst von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen bei vergleichbarer Tätigkeit, Qualifikation und Erwerbsbiografie, sechs Prozent. Unbereinigt betrug sie von 2020 bis 2023, laut Statistischem Bundesamt, konstant 18 Prozent.
Die Bundesregierung betont, diverse Maßnahmen zur Verringerung der Lohnlücke vorangebracht zu haben. Dazu gehören der Ausbau der Kinderbetreuung, die Erhöhung des Mindestlohns oder die Förderung von Frauen in Führungspositionen. Das grüne Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bereitete zudem die Stärkung des »Entgeltgleichheitsgrundsatzes« vor. Bisher scheinen sich diese Maßnahmen aber nicht in messbaren Verbesserungen auszudrücken.
Inklusion
Ein Bereich, in dem tatsächlich etwas voranging, war jener der Inklusion und Teilhabe. 2022 waren mit 1,12 Millionen so viele Menschen mit Schwerbehinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt wie nie zuvor. Dazu hat wohl auch die Ampel beigetragen. So erhöhte sie beispielsweise die Ausgleichsabgabe für besondere Extremfälle. Das ist eine Zahlung, die Unternehmen leisten müssen, wenn sie trotz Beschäftigungspflicht keine Menschen mit schweren Behinderungen anstellen.
Selbstvertretungsverbände von Menschen mit Behinderungen, wie die Lebenshilfe, kritisierten trotzdem, dass das Ampel-Aus viele wichtige Vorhaben vor ihrem Abschluss ausgebremst habe – wie ein inklusives Kinder- und Jugendhilfegesetz.
Kinderarmut
Laut der EU-Umfrage zu Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC), lag die Anzahl unterhalb der Armutsrisikoschwelle lebender Kinder 2023 bei rund 2,1 Millionen. Sie lebten in Haushalten, die weniger als 60 Prozent des Mittelwerts der Einkommen zur Verfügung hatten.
Die Kindergrundsicherung war vor allem von den Grünen vorangetrieben worden. Die Ampel-Verhandlungen hatten das Vorhaben immer stärker dezimiert, von den ursprünglich 12 veranschlagten zusätzlichen Milliarden blieben zuletzt 2,4 Milliarden Euro jährlich übrig. Doch auch diese Mini-Kindergrundsicherung setzte die Bundesregierung vor dem Bruch nicht mehr um.
Wohl auch deswegen betont die Ampel die Maßnahmen zur Steigerung der Haushaltseinkommen von Familien, die sich »positiv auf Kinder auswirken« obwohl sie nicht »speziell auf sie ausgerichtet sind« wie die Anpassung der Preis- und Lohnentwicklung im Bürgergeld. 2025 soll es jedoch eine Nullrunde geben, weil die Inflationsrate sinkt. Wohlfahrtsverbände wie der Paritätische kritisierten diese Entscheidung, da der Bürgergeldsatz ohnehin bereits zu gering sei, um Armutsgefährdungszahlen zu verringern. Nach der Einigung zum Bundeshaushalt im Februar wurde eine Erhöhung des Kindergelds 2025 um fünf Euro beschlossen.
Ost-West-Gefälle
2023 lagen die Bruttostundenlöhne in ostdeutschen Bundesländern mit 20,97 Euro weiterhin deutlich unter jenen im Westen (25,16 Euro), also um 17 Prozent niedriger. Und das, obwohl sich der Lohnabstand in den vergangenen Jahren kontinuierlich verringerte. Ursachen für die Unterschiede sieht die Bundesregierung, abgesehen von den bereits erwähnten unterschiedlichen Anteilen an der Tarifbindung, darin, dass Ostdeutsche eher in kleinen und mittelständischen Unternehmen beschäftigt sind, alle 30 Dax-Unternehmen ihren Sitz in Westdeutschland haben und in der unterschiedlichen Siedlungsstruktur. Was die Ampel zur Verringerung des Gefälles beigetragen hat, dazu macht das BMAS keine Angaben.
Rente
Daten zur durchschnittlichen Rente nach Einkommensdezil liegen nicht vor, so lässt sich der aktuelle Stand nur schwer einschätzen. Die Zahl der armutsgefährdeten Menschen befindet sich jedoch derzeit auf einem Höchstand. Das Rentenpaket II, das das Rentenniveau hätte stabilisieren sollen, wurde zwar noch im Mai 2024 vom Kabinett beschlossen, kam aber nicht mehr zustande.
Tatsächlich umgesetzt hatte die Ampel die Erhöhung der Erwerbsminderungsrente. Drei Millionen Menschen, deren Erwerbsminderungsrente zwischen Anfang 2001 und Ende 2018 begonnen hat, erhalten automatisch mehr Geld. Regelungen dazu wurden in der Vergangenheit nur für Rentenneuzugänge ausgebessert. Das holte die Ampel nach. Weil es bei dem Beschluss zu mehreren Verzögerungen kam, setzt die Deutsche Rentenversicherung die Änderung in Etappen um.
Das BMAS betont, darüber hinaus die Beitragsbemessungsgrenzen in der gesetzlichen Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung nach oben angepasst zu haben. Die Bemessungsgrenzen werden aber per se an die Lohnentwicklung angepasst, es handelte sich hierbei um einen Routinevorgang, der allerdings bis November 2024 vom FDP-geführten Finanzministerium blockiert wurde.
»SPD, Grüne und FDP haben versagt, wenn es darum geht, für eine gerechte Verteilung des Wohlstands zu sorgen«, resümiert Victor Perli, Bundestagsabgeordneter und umverteilungspolitischer Sprecher der Linken. »Wir müssen für echte linke Mehrheiten kämpfen, um die Ausbeutung des Marktes durch Umverteilung abzufedern und durch solidarisches Wirtschaften zu ersetzen«, fordert er. Milliardärsvermögen müssten besteuert und Unternehmen demokratisiert werden.
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