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Tagebuch aus einem zerrissenen Land
Die Journalistin Miriam Sachs ist für »nd« in Israel unterwegs – und schildert hier ihre Eindrücke
10.2.2025: »DO NOT WALK OUTSIDE THIS AREA«
Seit wann braucht man ein Visum für Israel und muss vorweisen, dass man bereits einen Rückflug gebucht hat? Ich hatte keinen, weil ich nicht weiß, wie diese Reise verläuft. Deshalb habe ich beinahe meinen Flug verpasst, es am Ende aber doch noch ins fast leere Flugzeug geschafft. Durch die Wolkendecke geschlüpft – und plötzlich, von oben betrachtet, sieht die Welt vier Stunden lang schön aus: eine Schneelandschaft, aus der Berge ragen. Darüber stehen. Drüber hinweggehen.
»DO NOT WALK OUTSIDE THIS AREA« – das steht auf den Tragflächen des Fliegers, in dem ich sitze. Ob es deswegen niemand tut? Mein Freund Deeb sitzt immer noch mit seinem verletzten Sohn Qais im Gazastreifen fest, aber mittlerweile in Rafah, dicht an der ägyptischen Grenze.
Miriam Sachs ist Autorin und Theatermacherin. Ihre Arbeit brachte sie immer wieder nach Gaza. Als im August 2024 der neunjährige Sohn ihres Kollegen Deeb von einer Drohne angeschossen wurde, versuchte sie vergeblich, das Kind zur Behandlung nach Deutschland zu bringen. Ebenso wenig hatte ihr Versuch Erfolg, einen Koffer mit Hilfsmitteln nach Gaza zu bringen. Nun ist sie für einige Wochen wieder in Israel unterwegs – nicht nur, aber auch, um den rosa Rollkoffer doch noch an sein Ziel zu befördern. Für »nd« führt sie ein Tagebuch.
Gelandet in Tel Aviv. Keiner wollte den gebuchten Rückflug sehen. Keiner das Visum. Am stufenlosen Rolltreppen-Fließband im Flughafen Ben Gurion fliegen die Plakate mit den Bildnissen der von der Hamas verschleppten Geiseln vorbei. Man sieht sie überall. Vertraut fremde Gesichter. Sind es weniger als vor vier Monaten? Hat man die entfernt, die wieder frei sind? Der Jubel ist groß. Aber solange nicht alle frei sind, ist die Freude nicht greifbar. Der Jubel verebbt.
Freue mich trotzdem: Dank der Waffenruhe lässt Israel endlich auch mehr Patienten aus Gaza gehen, Qais ist mittlerweile ganz oben auf der Liste der Weltgesundheitsorganisation: Und Israel gab gerade ebenfalls grünes Licht. Walk away, flieg davon.
Kurze Hoffnung für meinen Freund Deeb
Der Tag meiner Ankunft am Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv war ein so hoffnungsvoller. Im Zuge des Geisel-Gefangenen-Deals war der im Mai 2024 bis auf Weiteres geschlossene Grenzübergang zu Gaza wieder geöffnet worden. Unter anderem für 218 Patienten und deren Angehörige.
»Und für Hamas!« Eben rief Deeb mit bebender Stimme an: »Wir kommen wohl nicht raus.« Aber dafür ein Haufen Hamas-Leute plus jeweils drei Begleiter.
»Das kann nicht sein! Ist das ein Nebenabkommen des Waffenstillstand-Deals? Wie kann Israel zulassen, dass Hamas davonspaziert?«
»Die wollen das sogar!« Deebs Stimme klingt rau und angeschlagen, als habe er Mühe, seinen Ärger zu schlucken.
»Auf Wunsch von … Israel?!« Die Hamas darf gehen, nachdem man ganz Gaza inklusive ziviler Bevölkerung niedergebombt hat, um sie zu vernichten?
»Ja.« Er klingt erschöpft und wütend zugleich.
»Werden sie dann anschließend verhaftet?«
»Nein. Sie dürfen in die Türkei. Wenn die Türkei will.«
»Und dort gehen sie dann in den Ruhestand?«
Deeb lacht ein seltsam ruhiges Lachen.
Inzwischen ist er auf dem Weg. Nicht nach Ägypten, sondern zurück zum Flüchtlingscamp. Erneut die zerschlagene Hoffnung auf eine OP im Ausland. Allah habe es nicht gewollt. Aber er wisse schon, warum.
»Warum?«
»Keine Ahnung.« Deeb weiß den Grund nicht, Allah wisse ihn. Alle anderen, die ihn wissen, sagen ihn nicht.
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