Tagebuch aus Israel: Kein Zutritt ohne Weste

Die Journalistin Miriam Sachs ist für »nd« in Israel unterwegs – und schildert hier ihre Eindrücke

Wandbild für die Journalistin Shireen Abu Akleh
Wandbild für die Journalistin Shireen Abu Akleh

6. März 2025: Mein Fahrer R. hat die kugelsichere Weste und den Helm vergessen, die er mir hatte leihen wollen. Sie ist nicht im Kofferraum. War erst erleichtert, denn sie ist schwer. Glaube auch, es passiert einem eher etwas, wenn man sie trägt. Denke an die Journalistin, die 2022 im Jenin-Camp mit Helm, Presseweste und Mikrofon in der Hand von der israelischen Armee erschossen wurde.

Jenin scheint ruhig. Zwischenstopp oberhalb des Jenin-Refugee-Camps – keine fliegende Zeltstadt. Das war es vielleicht in den 50er Jahren; jetzt ist es ein kleiner Vorort, der seit Ende Januar im Fokus der Operation »Iron Wall« der israelischen Armee steht, die damit Terroristen in der Westbank aufspüren will. Sie schießt dabei weit übers Ziel hinaus: Wie immer trifft es in erster Linie Unschuldige.

Die Fahrt endete in einer aufgerissenen Straße unterhalb des Camps. Die Wege von dort herab glitzern vom Rinnsal des Wassers. Die beschädigte Infrastruktur sieht schön aus in der Sonne.

Tagebuch aus Israel

Miriam Sachs ist Autorin und Theatermacherin. Ihre Arbeit brachte sie immer wieder nach Gaza. Als im August 2024 der neunjährige Sohn ihres Kollegen Deeb von einer Drohne angeschossen wurde, versuchte sie vergeblich, das Kind zur Behandlung nach Deutschland zu bringen. Ebenso wenig hatte ihr Versuch Erfolg, einen Koffer mit Hilfsmitteln nach Gaza zu bringen. Nun ist sie für einige Wochen wieder in Israel unterwegs – nicht nur, aber auch, um den rosa Rollkoffer doch noch an sein Ziel zu befördern. Für »nd« führt sie ein Tagebuch.

Allgegenwärtiges Brummen der Drohnen. Jenin und Camp wirken wie Geisterstädte. Letzteres hat die Armee geleert. Auf Anwohner, die zurückwollten, um Hab und Gut zu holen, habe die Armee sofort geschossen, sagt ein Mann, der vor seinem kleinen Laden im Schatten steht.

Die Kollegen in ihrer blauen Rüstung machen sich trotzdem auf den Weg. Bin jetzt doch sauer wegen der vergessenen Weste, denn ohne sie will R. mich nicht mitgehen lassen. Komme mir vor wie die Neue, die an ihrem ersten Schultag keinen Schulranzen hat. Leute von der Palästinensischen Autonomiebehörde sind nicht erschienen. Schräg gegenüber vom Krankenhaus steht eine Kaserne von ihnen. Der weiße hohe Wachturm – Narben von Einschusslöchern – ist leer. »Die schlafen noch«, sagt R. und meint damit, dass sie mit Absicht wegsähen, was hier passiert.

Plötzlich taucht ein Bulldozer der Armee auf. Sah sie kolonnenweise schon von oberhalb des Camps über neu geschaffene Sandstraßen rollen. R. sagt, die hätten bereits israelische Namen. Wüsste gerne, welche. Die gesamte Vorgehensweise – der Shutdown von Schulen und Kliniken, die Zerstörung nicht nur von Straßen, sondern jeglicher Infrastruktur, die man wieder aufbauen könnte – wirkt wie der erste Schritt einer Annektion. Als die Armeefahrzeuge vorüber sind, kommt wieder etwas Leben in die Szenerie. Als hätte man eine ganze Weile die Luft angehalten und traute sich jetzt wieder auszuatmen.

Autos und Unfallwagen verlassen den Innenhof. An einer seiner Innenwände eine Erinnerungstafel entdeckt: die dunkelmetalligen Gesichtszüge der erschossenen Journalistin Shireen Abu Akleh. Die Armee hat später gesagt, sie sei im Kreuzfeuer umgekommen, durch palästinensische Geschosse. Als sich ein anonymer Armeeoffizier an die Presse gewandt hat, gab man dann doch »ein Versehen« zu.

Zwischen Jenin und Jenin-Camp

Die Kollegen sind unversehrt zurück. Ins Camp kam keiner.

All dies geschieht und wiederholt sich seit sehr langer Zeit. Wie lange die Marktstände vor dem Krankenhaus schon zerstört sind, erzählen ein paar übrig gebliebene Zwiebeln. Ihre Triebe schießen in die Höhe. Die wahren Tragödien aber finden im Inneren statt. »Komm!«, sagt R. Wir müssen weiter.

Eine jener Tragödien wohnt im nächsten Dorf. Leyla, zwei Jahre. Kopfschuss. Alles geht den Bach runter. Lieber würde ich hier einfach sitzen bleiben. Stundenlang könnte ich die aufgerissene glitzernde Straße ansehen.

Vorherigen Eintrag lesen: 3.3.2025 – Verwirrung bei Google-Maps

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -