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Schmerzfrei durch Bewegung
Von der Muskelhülle zum Sinnesorgan: Die erstaunliche Karriere der Faszien
Vom Aschenputtel der Anatomie zum Star der Forschung: Faszien haben seit der Jahrtausendwende eine erstaunliche Karriere hingelegt. Früher wurden sie nur als eine Art Muskelhülle betrachtet, der man keine weitere Beachtung schenkte. »Wenn wir die Operationswunde verschlossen haben, haben wir die Faszien zusammengenäht wie Sackleinen«, berichtet der Orthopäde Hermann Locher aus Tettnang von seinem Studium in den 70er Jahren. »Wir haben nicht bedacht, wie sensibel diese Struktur ist und welche wichtige Rolle sie auch bei der nervlichen Verarbeitung von Signalen spielt.«
Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Faszien für die Gesundheit des ganzen Bewegungsapparats bedeutend sind. Neue Studien unterstreichen insbesondere ihre Rolle bei der Entstehung von Rückenschmerzen.
»Mit circa 250 Millionen Neuronen sind die Faszien unser reichhaltigstes Sinnesorgan.«
Robert Schleip Humanbiologe
Faszien sind ein gigantisches Netzwerk aus Fasern, die aus Wasser, Kollagen und Elastin bestehen. Sie bilden ein mehrschichtiges System innerer Häute, das unseren Körper wie ein gigantisches Spinnennetz durchzieht. Wer schon einmal Hühnerbrust zubereitet hat, kennt die weißlichen Fasern, die am Fleisch hängen und die man üblicherweise wegschneidet.
Als vegetarisches Anschauungsmodell eignet sich die Zitrusfrucht: Wie die weißen Häutchen, die die Fruchtkammern einer Orange voneinander trennen und miteinander verbinden, durchweben Faszien den menschlichen Körper. Sie umhüllen Muskeln und Organe, fassen Muskelfasern zu Bündeln zusammen und geben dem Körper Halt.
»In der Vergangenheit stand die mechanische Funktion der Faszien im Mittelpunkt der Forschung, jetzt ist auch ihre sensorische Funktion in den Blickpunkt gerückt«, sagt Robert Schleip, Direktor der Fascia Research Group an der Technischen Universität München und der Universität Ulm. »Mit circa 250 Millionen Neuronen sind die Faszien unser reichhaltigstes Sinnesorgan.« Die Zahl stimmt aber nur, wenn man den »modernen« Faszienbegriff verwendet, wie der Forscher erklärt: Dazu zählen nicht nur die Muskelhülle, sondern auch Sehnen und das intramuskuläre Bindegewebe.
Auch wenn es sich bei der Zahl um eine Schätzung handelt, macht sie klar: Faszien sind ein hochsensibles Organ, das auf zahllose Reize reagiert. So beinhalten sie Propriozeptoren, die für die Körperwahrnehmung wichtig sind, und weitere Rezeptoren, die Schmerzinformationen ans Gehirn weiterleiten.
Gerade bei der Volkskrankheit Rückenschmerz kann die Faszienforschung einen wichtigen Beitrag zu besserer Vorsorge und Therapie leisten. Die Schlüsselrolle spielt dabei die Thorakolumbalfaszie, die für die Stabilität der Lendenwirbelsäule wichtig ist. Schon vor Jahren konnte die US-amerikanische Neurologin Helene Langevin zeigen, dass diese Faszie bei Menschen mit chronischen Rückenschmerzen häufig verändert ist. Dazu untersuchte sie den Lendenwirbelbereich von 107 Studienteilnehmern per Ultraschall und stellte fest, dass das Fasziengewebe in diesem Bereich bei denjenigen, die dort ständig Schmerzen hatten, im Vergleich zur Kontrollgruppe um 25 Prozent dicker war.
Möglicherweise steckt also hinter chronischen Rückenschmerzen öfter eine Faszienproblematik – allerdings lässt sich schwer abschätzen, was Ursache und Wirkung ist. »Ob ein Schmerz durch Faszien ausgelöst wird, kann man nicht sagen«, erklärt Hermann Locher, Experte für manuelle Medizin der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie. »Wir haben keine diagnostische Methode, um einen Schmerz als rein Faszien-verursacht zu bestimmen.« Klar sei aber, dass die Strukturen an der Schmerzentstehung beteiligt seien.
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Veränderungen an den Faszien können Therapeuten ertasten: Sie fühlen sich dann verkümmert, verhärtet oder unbeweglich an. Bald könnte die Diagnose einfacher werden, da sich die Ultraschallverfahren verbessert haben. So liefert die sogenannte Elastografie farbige Bilder von Faszien samt Triggerpunkten, was eine zielgerichtete Therapie erleichtert. »Solche Geräte, die bisher extrem teuer waren, sind inzwischen deutlich billiger zu haben«, sagt Schleip. »Sie können relativ gute Werte über die Festigkeit eines Gewebes liefern.«
Abgesehen davon hat ein Team um den Sportwissenschaftler und Osteopathen Andreas Brandl aus Zirndorf eine spezielle Ultraschall-Messmethode entwickelt, um Veränderungen der Rückenfaszie zu erfassen. »Damit kann man die Beweglichkeit dieser Faszie quantifizieren«, sagt Schleip. »Das war bisher ein Riesen-Aufwand.«
Gerne ist in dem Zusammenhang auch von »verklebten Faszien« die Rede – ein Ausdruck, der schon öfters als irreführend kritisiert wurde. »Die Wortwahl ist überzeichnet«, meint Locher, »aber das Bild vom Klebstoff ist gut, um Patienten die Situation zu veranschaulichen.« Eigentlich gehe es um die Beschaffenheit der Hyaluronsäure, die wie ein Schmiermittel für die Beweglichkeit innerhalb der verschiedenen Faszienschichten sorgt. Ist die Flüssigkeit, wie Locher es nennt, »zäh wie dicker Honig«, sind die Faszien schwer beweglich. Bringt man sie durch Bewegung in Schwung, wird sie flüssig wie dünner Honig.
Wie gut hilft das Training mit Hartschaumrollen, die vor Jahren einen regelrechten Hype auslösten? Experten wie Schleip warnen vor überzogenen Erwartungen an das »Rollern«. »Metastudien haben gezeigt, dass ein Training mit der Rolle meist eine vorübergehende Beweglichkeitsverbesserung bringt«, sagt Schleip. Außerdem könne sie die Regeneration nach intensivem Sport beschleunigen. Das Resümee fällt jedoch ernüchternd aus: »Man kann sagen, dass es nicht viel mehr bringt als Dehnung.«
Überlegen ist die Rolle aber in einem entscheidenden Punkt: Mit ihr lassen sich gezielt verhärtete Stellen bearbeiten. Völlig harmlos ist das Rollen-Training nicht. Wie Locher erklärt, könnten zum Beispiel die Venenklappen beschädigt werden. Daher rät er insbesondere Menschen mit Krampfadern, nur in Richtung des Blutrückflusses, also zum Herzen hin, zu rollern. Auch bei Osteoporose oder frischen Verletzungen können die sogenannten Faszienrollen schaden, ebenso, wenn man Blutverdünner einnimmt. »Der häufigste Fehler, den Leute machen, ist allerdings, sich gleich mit vollem Gewicht auf die Blackroll zu legen«, sagt Locher. Insbesondere von Anfängern sollten die Rollen mit Bedacht eingesetzt werden.
Faszien lassen sich auch ganz ohne Hilfsmittel in Schwung bringen: nämlich durch Bewegung jeglicher Art, sei es Laufen, Hüpfen, Strecken oder Dehnen. »Sitzt man den ganzen Tag am Computer, schrumpfen die Faszien zusammen. Man muss körperlich etwas tun, egal was«, betont der Orthopäde. Ob man joggen oder schwimmen geht oder doch lieber ins Fitnesscenter, spielt keine Rolle. »Gut ist aber, immer mal wieder abzuwechseln.«
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