Auf Türkisch klingt es besser

Die Anadolu-Rock-Szene kommt in die Medien. Das liegt auch an neuen Bands wie Sinem

  • Luca Glenzer
  • Lesedauer: 4 Min.
Musik für die Oma? Nein, Musik für alle: Sinem
Musik für die Oma? Nein, Musik für alle: Sinem

Derya Yıldırım, Altın Gün, Baba Zula: Die Liste aktueller Künstler*innen, die in der Traditionslinie des Anadolu Rock der 60er und 70er Jahre stehen, ist lang und wird immer länger. Damals wie heute kulminieren in diesem Sound Elemente klassischer anatolischer Folklore mit moderner, mitunter auch westlich orientierter Rockmusik. Im Januar erschien »Köşk«, das Debütalbum von Sinem, beim angesagten Berliner Label Fun In The Church. Knapp 20 Auftritte hat das Trio aus München im vergangenen Jahr bereits gespielt, zurzeit erhält es eine Booking-Anfrage nach der nächsten – aus Deutschland, aber auch aus dem Ausland. Und das, nachdem die Gründung der Band keine anderthalb Jahre zurückliegt.

Sie selbst habe noch keine Konzertanfrage verschickt, erzählt Namensgeberin Sinem Arslan Ströbel, die hauptberuflich als Bookerin arbeitet. Deshalb weiß sie, wie ungewöhnlich die hohe Nachfrage für eine neugegründete Band ist. Doch wie ist es dazu gekommen? Das kann sich Ströbel auch nicht so recht erklären. Fakt ist: Ihr damaliger Mitbewohner, der in der Münchener Subkultur überaus umtriebige Drummer Tom Wu, habe sie an einem trüben Herbsttag – irgendwann im Oktober 2023 – im Nebenzimmer singen hören. Damals übte sie einen Song ein, den sie auf dem 80. Geburtstag ihrer Oma, einer sogenannten Gastarbeiterin der ersten Generation, präsentieren wollte. In einem kleinen, privaten Rahmen, fernab der Öffentlichkeit, eine einmalige Geschichte.

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Doch es kam anders. Denn kurz darauf kam Wu auf sie zu. »Lass doch mal in den Proberaum gehen, und dann probieren wir rum«, schlug er vor. Innerhalb von zwei Wochen waren dann die ersten drei Songs einstudiert. Komplettiert wurde das Projekt schließlich durch den Gitarristen Martin Tagar, den einige durch sein Mitwirken als Bassist bei der Post-Punk-Band Friends Of Gas kennen dürften. Sein repetitiv-reduziertes Spiel fügt sich auf »Köşk« nahtlos ein in den rhythmischen Sound der Band, in dem das Schlagzeug entgegen üblichen Konventionen stark in den Vordergrund gemischt ist. Dazu spielt Tagar wie schon bei seiner Stammband hypnotische Schleifen, die sich in den Gehörgängen festsetzen und den Charakter der Songs entscheidend prägen.

So etwa im Song »Dem Dem«, dem Opener des Albums. Angetrieben von einem peitschenden Beat, spielt sich das Trio dabei regelrecht in Rage. Vergleicht man den Song dann mit dem sanften, folkloristischen Original des türkischen Dichtersängers Aşık Mahzuni Şerif, meint man zuerst, einen gänzlich anderen Song zu hören. Einzig die markante Gitarrenmelodie knüpft eine Verbindungslinie zwischen damals und heute. Grooviger dagegen präsentiert sich das Trio in Songs wie »Gurbet« oder »Yaz Gazeteci Yaz«, in denen tiefe Synthesizer-Spuren voll zum Tragen kommen. In längeren Stücken wie »Sivas’ın yollarına« oder »Lambaya Püf De« geht es wiederum atmosphärischer, für Sinems Verhältnisse fast balladesk zu.

Mit ihrer Mixtur aus Post Punk und Anadolu Rock schließen Sinem an eine Traditionslinie an, die in Deutschland medial lange sträflichst unterbelichtet war. Dabei ist es nicht so, dass es hierzulande keine Künstler*innen gegeben hätte, die sich in diesen Soundsphären bewegen, ganz im Gegenteil. Yüksel Özkasap, Ozan Ata Canani, Cem Karaca oder Aşık Metin Türköz – sie alle lebten und spielten ab den 60er Jahren in Westdeutschland und hatten zum Teil ein Millionenpublikum. Manche von ihnen – wie Canani – kamen mit ihren Eltern nach Deutschland, die hier als Gastarbeiter*innen angeheuert wurden. Andere, wie Karaca, folgten erst später aufgrund politischer Verfolgung in der Türkei. Sie alle einte, dass sie Gurbetçi-Lieder spielten, also »Lieder aus der Fremde«. In ihnen verhandelten sie universale Themen wie Freiheit, Solidarität, Aufrichtigkeit und Mitmenschlichkeit, die auch heute, knapp 60 Jahre später, nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben.

Einen großen Anteil an der Wiederentdeckung der Gurbetçi-Lieder hat der Dokumentarfilm » Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod« von Cem Kaya aus dem Jahr 2022. Ähnlich wie in der Musik von Sinem wird von Kaya ein Bogen von den 60er Jahren bis in die Gegenwart gespannt. Auch sie habe der Film damals nachhaltig beeindruckt, sagt Arslan Ströbel. Künstler*innen aus dem Film wie Cem Karaca kannte sie schon: Sie liefen im Elternhaus und bei ihren Großeltern rauf und runter.

Auf Deutsch zu singen, sei für sie keine Alternative, auch wenn sie die Sprache weitaus besser beherrsche, sagt Ströbel. Doch ihre Stimme gefalle ihr im Türkischen einfach besser, erzählt sie im Gespräch: »Es ist vielleicht ein Klischee, aber es ist am Ende einfach ein Unterschied, ob man mit zwei Kulturen aufwächst oder nicht.«

Sinem: »Köşk« (Fun in the Church)

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