Die Sonne geht nicht im Westen auf

Peter-Michael Diestel und Gregor Gysi reden über Deutschland und ein bisschen über sich selbst

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.
Peter-Michael Diestel, Innenminister der letzten DDR-Regierung
Peter-Michael Diestel, Innenminister der letzten DDR-Regierung

Lesend sehen wir die beiden am Gartentisch sitzen, unter Bäumen. Peter-Michael Diestel (72) und Gregor Gysi (77) sind per du. Aber da ist noch ein Dritter im Bunde, Hans-Dieter Schütt (76), der die beiden mit »Sie« anspricht. Für Momente könnte man ihn übersehen, aber von ihm hing es ab, was wir zu lesen bekommen.

»Zwei Unbelehrbare. Wir? Klingt wie: zwei alte weiße Männer.« Selbstironie, mit ein wenig Koketterie gemischt, so fängt es an. Verbohrt und vernagelt? Von wegen! Es ist die geistige Beweglichkeit der beiden, die mich am Lesen hält, ja auch ihr starkes Ego, an dem ich meine Freude habe. Zwei gelernte Rinderzüchter, die Rechtsanwälte wurden und als Politiker auf verschiedenen Seiten standen: Der eine bei der DSU, dann bei der CDU als letzter Innenminister der DDR, seit 2021 parteilos. Der andere, seit 1967 Mitglied der SED, forderte auf der Massenkundgebung am 4. November 1989 ein neues Wahlrecht sowie ein Verfassungsgericht. Auf dem Sonderparteitag der SED am 8. Dezember lehnte er die Auflösung und Neugründung der SED als »verantwortungslos« ab und wurde am 9. Dezember zum Vorsitzenden gewählt. Abgeordneter der Linken im Bundestag, für die er in diesem Jahr wieder um ein Direktmandat kämpfte.

Gregor Gysi ist nach wie vor in der Politik aktiv, hier eröffnet er als Alterspräsident am 25. März 2025 den neu gewählten Bundestag.
Gregor Gysi ist nach wie vor in der Politik aktiv, hier eröffnet er als Alterspräsident am 25. März 2025 den neu gewählten Bundestag.

Diestel christlich konservativ, Gysi ein Linker. In verschiedenen politischen Lagern blieben sie doch sich selbst treu und zur Verständigung bereit. Allein das spricht doch für das Projekt dieses Buches: Unterschiedliche Positionen müssen Menschen nicht zu Feinden machen. Wenn sie klug sind, werden sie durch Gegenargumente sogar klüger.

Rhetorisch brillanter Wortwechsel, der manchmal zum spielerischen Schlagabtausch wird, das sorgt für Unterhaltung. Aufrichtiges Sprechen aus der Ich-Perspektive fordert beim Lesen zum Vergleich mit eigenen Erfahrungen und Meinungen heraus. Zwei Ostdeutsche wehren sich gegen klischeehafte Zuschreibungen. Diestel geriet in die Kritik, weil er die pauschale Ausgrenzung von SED-Mitgliedern kritisierte. »Die wollten mich aus dem Amt jagen wegen meiner Differenzierungsversuche bei der Stasi-Auflösung.« Gysi spricht vom Ende der DDR als Abrechnung. »Auch mit dem großen geistigen Angstgegner Kommunismus. Jetzt konnte man eine fremde Vergangenheit aufarbeiten, forciert, wie man die eigene nie aufgearbeitet hatte.« Dass es nicht zu einer wirklichen deutschen Einheit kam, darin sind sich beide einig. Diestel: »Der politische Westen behandelt die Ostdeutschen nach wie vor, als müssten sie integriert werden… Friedrich Merz hat im Sommer 2023 diese Vokabel tatsächlich verwendet, in einem Fernsehgespräch über aktuelle Aufgaben der Politik, speziell der CDU.« Einst mit der DDR-Politik über Kreuz, hat er nun die Nationalhymne als Klingelton auf seinem Handy. »Erst der Westen hat mir den Osten zum Paradies gemacht, indem man uns erklärt hat, wir seien von einem Misthaufen gefallen.«

Mitunter hat auch Hans-Dieter Schütt etwas anzumerken oder stellt eine Frage. Aber allein schon, wie er jedes der zehn Kapitel nicht nur mit einer Überschrift, sondern auch mit Zitaten einleitet, wie er jeweils mit einem Vorspann neugierig macht (manchmal, indem er in Rätseln spricht), zeigt eigenen Gestaltungswillen. Sein wievieltes Interviewbuch mag es sein? Wikipedia bietet nur eine Auswahl. Er ist ein Meister in diesem Metier, das Konzeption und Komposition verlangt, damit keine Langatmigkeit entsteht. Wir bekommen, was wir erhoffen, sollen dann aber auch wieder staunen, wie sich die beiden Männer öffnen, auch Verletzlichkeit offenbaren und ganz sie selbst sein können. Manche Einzelheit deutsch-deutscher Geschichte wird enthüllt. Interessant zum Beispiel, wie Verabredungen zwischen UdSSR und USA der Grund waren, warum sich Honecker und Strauß verstanden. Prominente Namen fallen. Die ganze heutige Misere kommt zur Sprache, was deutsche und internationale Zustände betrifft. Die Ängste, die viele haben, während die BRD zum fünftgrößten Waffenexporteur der Welt aufgestiegen ist.

Kein moralisierendes Schwarz-Weiß-Denken, sondern Sinn für Widersprüchliches, was in politischen Debatten eher selten ist. Vielleicht, weil Rechtsanwälte ja ihre Klienten verstehen müssen. Diestel: »Wer den Mitläufer geringschätzt, weiß wenig vom Menschen.« Gysi: »Du wirst in eine Struktur hineingeboren, die hast du ja nicht organisiert oder gewollt, sie umgibt dich einfach. Und jeder Mensch hat das Recht, in dieser Struktur ein gutes Leben zu versuchen.« Und an anderer Stelle: »Die Linke muss Verständnis für die kleinen Träume der Menschen haben und gleichzeitig Lust auf die großen Träume machen.« Auch dass die Vereinigung von PDS und WASG mit einer Vernachlässigung des Ostens einherging, musste mal laut gesagt werden. Und dass die Linke für die Ärmeren, aber auch für die Mittelschicht eintreten muss, der zugunsten der wirklich Reichen eine immer größere Bürde aufgehalst wird. »Wenn die Mitte kaputt geht, kann denen unten nicht mehr geholfen werden.«  

Diestel: »Jede Wahrheit produziert genau das, was ihr widerspricht.« Gysi: »Ach, die Linken versuche ich stets davor zu warnen, programmatisch zu überziehen. Man löst nur Gegenreaktionen aus.« Gespräche über Gott und die Welt, über das Altern und über Lebenskunst, über den »König Zufall«, darüber, »dass zu jeder Zeit immer alles kippen kann«, über Loslassen und Abenteuer. Sätze zu Aphorismen geschliffen. Damit wir es genießen und vor allem, damit wir nicht verzagen, denn man muss sich ja »gegenseitig ermuntern«.  

Diestel: »Die Sonne geht schließlich nicht im Westen auf.« Gysi: »Ja, und das heißt auch: Im Osten geht sie nicht unter.«

Peter-Michael Diestel/ Gregor Gysi: Zwei Unbelehrbare reden über Deutschland und ein bisschen über sich selbst. Hg. v. Hans-Dieter Schütt. Aufbau, 287 S., geb., 22 €.

Kein moralisierendes Schwarz-Weiß-Denken, sondern Sinn für Widersprüchliches, was in politischen Debatten eher selten ist.

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