Berlinale: Die Suche nach Sinn und Zugehörigkeit

Sektion Perspectives: »Mit der Faust in die Welt schlagen« von Constanze Klaue untersucht das Phänomen der Radikalisierung

Allein gelassen mit sich selbst
Allein gelassen mit sich selbst

Die Befindlichkeit des Ostens ist inzwischen zum festen Topos in der deutschen Diskurslandschaft geworden. Die Fragen »Wie ist er denn so, der Ostdeutsche?« und vor allem »Warum ist er so?!« beschäftigen etliche Sozialwissenschaftler, Literaten und Filmemacher. Spätestens seit Dirk Oschmanns Wutschrift über den Osten als Konstrukt westdeutscher Ignoranz hat die Debatte erneut Fahrt aufgenommen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem ersten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung, in welchem gemeinhin die Wurzeln für den erstarkenden Rechtsradikalismus in den »neuen Ländern« verortet werden. Ihren Ausdruck fand diese Radikalisierung damals in Gewaltexzessen, die heute unter dem Begriff »Baseballschlägerjahre« subsumiert werden.

»Mit der Faust in die Welt schlagen« nach dem Roman von Lukas Rietzschel setzt 2006 ein und spielt in der ostsächsischen Provinz. Hier wachsen die Brüder Tobi (9) und Philipp (12) in einer von Niedergang und dem Zerfall sozialer Strukturen geprägten Umgebung auf. Die Eltern bauen ein Haus, wie man das so macht auf dem Land. Leisten können sie es sich aber eigentlich nicht, und bald zeigen sich die Risse im Mittelschichtsgebälk. Der Vater, ehemaliger Lokomotivbauer in einem großen Kombinat, hangelt sich von einer prekären Beschäftigung zur nächsten und wird schließlich arbeitslos, die Mutter ist als Krankenschwester meist abwesend, die Kinder auf sich allein gestellt. In ihrer Freizeit durchstreifen sie häufig die Ruinen, die von den einstigen Arbeitsplätzen der Eltern geblieben sind.

Damit beschreibt der Film geradezu prototypisch jene bleierne Zeit, in der die Generation der um die oder kurz nach der Wende Geborenen aufgewachsen ist. Die traumatischen Folgen der Entwertung der Arbeitsbiografien der Eltern und das Wegbrechen sozialer Bindungen haben vor allem sie auszubaden. Dass sich jeder nur noch selbst der Nächste ist, scheint als Tatsache hingenommen, aber noch nicht wirklich verinnerlicht zu sein. Jenseits des immer noch wirkmächtigen sozialistischen Gleichheitsgebots lebt man nun in einer Klassengesellschaft, in der Einkommen, Herkunft und sozialer Background über Lebenswege entscheiden.

Nach dem Wegfall des ideologischen Überbaus der DDR kann die neue Gesellschaft keinen Sinn stiften, der über die Anhäufung materieller Güter hinausgeht. Pech, wenn man sich diese Güter wegen der prekären Arbeitsverhältnisse nicht leisten kann. »Die Polen haben meinem Vater die Arbeit weggenommen«, ist für Tobi ein naheliegender Erklärungsversuch für die Misere, und die Lehrer in der Schule können oder wollen dem auch nichts entgegensetzen. Das erste Hakenkreuz auf dem Schulhof wird noch verschämt abgehängt, aber längst ist das rechte Grundrauschen omnipräsent.

Das Haus bleibt indes halbfertig, der Vater, der hier wirklich noch »Vati« heißt, betäubt sein vermeintliches Scheitern mit Alkohol und der Nachbarin. Die Sprachlosigkeit der Eltern sowie die Abwesenheit des Vaters, den die Mutter, die die Dinge am Laufen halten muss, nicht kompensieren kann, skizziert der Film als Schlüsselmomente auf dem Weg zum Jungnazi. Um der emotionalen Leere und provinziellen Ödnis zu entkommen, bleiben nur die älteren Jungs, die Abenteuer versprechen, aber Gewalt gegen Flüchtlinge meinen. Allein gelassen mit sich selbst und auf der Suche nach Sinn und Zugehörigkeit, schließt sich Philipp ihnen an, auch wenn er dafür Grenzen überschreiten muss.

»Mit der Faust in die Welt schlagen« reiht sich ein in die Legion der Ost-Erklärversuche – und ist doch anders und besonders. Das liegt an dem unglaublichen Gespür der 1985 in Ost-Berlin geborenen Regisseurin Constanze Klaue für Stimmungen und Tonlagen, mit der sie das Lebensgefühl in den »neuen Ländern« in den Nullerjahren präzise erfasst und beschreibt. Kaum zu glauben, dass es sich um einen Debütfilm handelt, der deshalb in der neuen Berlinale-Sektion »Perspectives« für ebensolche Erstlingsfilme läuft.

Die empathische Figuren- und Milieuzeichnung und die kongeniale Besetzung bis in die Nebenrollen verleihen dem Film unbedingte Glaubwürdigkeit, ohne dass die Regisseurin allzu dick auftragen muss. Stattdessen geht die Kamera (Florian Brückner) dicht an die Protagonisten heran und erforscht deren Gesichter, in denen sich das Schicksal einer ganzen Generation spiegelt. Entschuldigen will der Film nichts, als dichte Beschreibung einer brüchigen Gesellschaft bleibt er lange im Gedächtnis haften.

»Mit der Faust in die Welt schlagen«, Deutschland 2025. Regie: Constanze Klaue. 110 Min.
18.2., 21.30 Uhr, Cubix; 20.2., 15.30 Uhr, Colosseum; 21.2., 14.45 Uhr, Cubix

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