- Kultur
- Berlinale: »Was Marielle weiß«
Flirten unter Beobachtung
Wettbewerb: »Was Marielle weiß« von Frédéric Hambalek schaut auf die Familie
Der israelische Universalhistoriker und Autor Yuval Hariri vertritt in seiner »Kleinen Geschichte der Menschheit« die These, die Überlegenheit des Homo sapiens gegenüber anderen Menschenarten sowie das Entstehen von größeren Gemeinschaften von Jägern und Sammlern beruhe zu einem nicht unerheblichen Teil auf der Fähigkeit zur Kolportage, also zum Verbreiten von Gerüchten und Gesellschaftsklatsch. Diese kommunikative Kompetenz habe zur kognitiven Revolution und zur Entstehung komplexer Strukturen geführt, zu dem, was wir Kultur bzw. Gesellschaft nennen. Der Klatsch sei sozusagen Grundlage für ein geregeltes Sozialverhalten.
Grundvoraussetzungen für gepflegten Klatsch und Tratsch sind freilich das Geheimnis, dieses »Das muss aber unter uns bleiben«, sowie die kleinen und größeren Lügen. Bekanntermaßen lügt jeder Mensch mehrmals am Tag, sei es aus Angst, Höflichkeit oder Egoismus. Früher gingen Forscher davon aus, ein Mensch würde ungefähr 200-mal am Tag lügen. Das gilt heute als überholt und trifft wahrscheinlich nur auf Donald Trump zu. Und doch sind die kleinen Unwahrheiten, Übertreibungen und Schmeicheleien, die wir uns erzählen, der soziale Kitt eines jeden Gemeinwesens, von der Ehe mal gar nicht zu reden.
Nun stellen Sie sich vor, Ihre pubertierende Tochter könnte immer und zu jeder Zeit jedes Ihrer Worte hören und sehen, was Sie den ganzen Tag tun – auch in Abwesenheit! Damit ist der Plot von »Was Marielle weiß« eigentlich schon umfassend beschrieben. Durch eine Ohrfeige von ihrer besten Freundin, die Marielle (Laeni Geiseler) zuvor ›Schlampe‹ genannt hatte, verrutscht irgendetwas in Marielles Gehirn, und sie verfügt plötzlich über solche telepathischen Fähigkeiten. Dumm nur, dass die Mutter an just diesem Tag heftigst mit einem Kollegen flirtet und der Vater auf der Arbeit eine Niederlage einstecken muss, diese am heimischen Abendbrottisch jedoch ins heroische Gegenteil umdeutet. Das sollen jetzt also die Vorbilder sein, denen es nachzueifern gilt?
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Dass es diese wirklich erfrischende deutsche Komödie in den Wettbewerb der Berlinale geschafft hat, ist ein Glücksfall. Deren Entstehung selbst ist es. In einem Interview mit der »Süddeutschen Zeitung« erzählten die beiden Münchner Produzenten, dass sie trotz schmal veranschlagten Budgets bei allen Förderinstitutionen nur Absagen erhalten hätten. Zu abstrus erschien offenbar den Filmbeamten die Grundidee.
Am Ende habe der Film weniger als ein durchschnittlicher »Tatort« gekostet. Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass es weniger am Geld als am fehlenden Mut der Filmförderer liegt, wenn so viel Mittelmaß entsteht. Dabei ist dieses Gedankenspiel doch durchaus naheliegend: Was wäre, wenn all unser Tun und Handeln sowie unser Reden transparent für wichtige Bezugspersonen wären? Wenn all die Heimlichkeiten des Alltags offen dalägen?
Marielle jedenfalls lernt in der Folgezeit mehr über ihre Eltern und die Welt der Erwachsenen, als ihr lieb ist, und sie versinkt zunehmend in Schwermut. Die Eltern (Felix Kramer und Julia Jentsch) sind freilich ebenso verunsichert und führen nur mehr ritualisierte, formelhafte Gespräche, um ja in kein Fettnäpfchen zu treten – denn die Tochter hört und sieht mit, ob sie will oder nicht. Der Verlust an Privatsphäre bedroht das empfindliche Gleichgewicht ihrer Ehe, die wie die meisten Partnerschaften auf einem Arrangement beruht, das eben die kleinen Lügen mit einschließt.
Es ist ebenso amüsant wie spannend, wie es Regisseur Frédéric Hambalek, der auch das Buch schrieb, gelingt, der absurden Idee seines Debütfilms Leben einzuhauchen und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Wobei die Glaubwürdigkeit sich natürlich nicht auf die telepathischen Fähigkeiten der Tochter bezieht, sondern auf die Reaktionen im sozialen Umfeld der Familie. Um als Vorbilder vor ihrer Tochter zu bestehen, entschließen sich die Eltern zu radikaler Ehrlichkeit voreinander und gegenüber den Kollegen. Es lässt sich denken, zu welchen Verwicklungen das führt.
Diese Nahbarkeit macht den Film, der im April in die Kinos kommt, so sympathisch. Schließlich dürfte bei jedem von uns schon angesichts der Vorstellung, das eigene Kind könnte stets sehen und hören, was man tut und sagt, der Fremdschämreflex aktiviert worden sein. Deshalb lässt man sich gerne auf dieses filmische Experiment ein. Die Gedanken immerhin bleiben frei.
»Was Marielle weiß«, Deutschland 2025. Buch und Regie: Frédéric Hambalek. Mit: Julia Jentsch, Felix Kramer, Laeni Geiseler, Moritz Treuenfels. 86 Min.
23.2., 15.30 Uhr, Berlinale Palast
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.