»Kontinental ’25«: Erhängt an der Heizung

Hybris und Verlogenheit der bürgerlichen Wohlanständigkeit: »Kontinental ’25« im Wettbewerb

Eine Gewissensfrage: Will die Mittelklasse ihre Ängste und Nöte verstehen?
Eine Gewissensfrage: Will die Mittelklasse ihre Ängste und Nöte verstehen?

Einer der radikalsten Regisseure, die Europa derzeit zu bieten hat, ist der rumänische Filmemacher und Autor Radu Jude. Radikal meint dabei weniger die Filmsprache als Judes unzweideutige Parteinahme für die Verdammten dieser Erde beziehungsweise Rumäniens. Seine respektlose Anklage der Verhältnisse im Vulgärkapitalismus osteuropäischer Prägung brachte ihm vor vier Jahren bereits den Goldenen Bären für die Groteske »Bad Luck Banging or Loony Porn« ein. Nun ist er mit »Kontinental ’25« zurück im Wettbewerb.

Seinen Sinn für groteske Situationen, mit denen tradierte (Seh-)Erwartungen dekonstruiert werden, hat Jude nicht verloren. Gleich in der ersten Szene sehen wir einen obdachlosen und sichtbar kranken Mann Flaschen sammelnd durch einen Vergnügungspark stolpern, während rings um ihn überlebensgroße Plastiksaurier mit den Köpfen wackeln und mechanisch vor sich hin brüllen. Wie ein Ausgestoßener wandelt der Mann später durch die Menschenmenge, durch eine Welt, mit der er und die mit ihm nichts mehr zu tun hat.

Die Hauptfigur ist aber Orsolya (Eszter Tompa), eine ungarischstämmige Gerichtsvollzieherin im siebenbürgischen Klausenburg, die den Räumungsbefehl gegen den Obdachlosen exekutieren soll. Dieser hat sich im Heizungskeller eines Hauses einquartiert, das eine Immobilienfirma abreißen will, um dort ein Luxushotel zu bauen. Orsolya tut ihre Pflicht, und während sie mit den Polizisten bei einem Kaffee darauf wartet, dass der Mann seine Sachen packt, erhängt der sich mit einem Draht am Heizkörper seines Verschlages. Jude ist garstig genug, die Details nicht vorzuenthalten: Der Zuschauer kann zwar ohne Bild, aber mit Ton mitverfolgen, wie schwierig es sich stirbt.

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Für die beteiligten Polizisten und für die Beschäftigten der Immobilienfirma ist dieser Tod lediglich eine kleine Störung im Betriebsablauf; juristisch ist nichts zu beanstanden, Angst haben sie lediglich vor der Presse, die solch ein Ereignis für ihre eigenen Zwecke ausbeutet. Nur Orsolya kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Die tragischen Folgen ihres Handelns lösen bei ihr eine moralische Krise aus. Verzweifelt schickt sie ihre Familie alleine in den Urlaub und unternimmt verschiedene Versuche, sich über sich selbst und ihr Handeln klarzuwerden. Aber will irgendjemand überhaupt davon wissen oder sie verstehen? »Kontinental ’25« wird nun zum Diskursraum. In langen Plansequenzen verfolgen wir Orsolyas Gespräche mit den Kollegen, ihrer besten Freundin, einem früheren Studenten von ihr, dem Pfarrer und anderen.

Das ist erzählerisch durchaus spröde, aber ungemein erhellend, wird der Zuschauer doch in den Unterhaltungen präzise mit den Themen konfrontiert, über die man meist lieber nicht so genau nachdenkt. Zumindest nicht, wenn man sich der Mittelklasse zugehörig fühlt und um den Erhalt des sozialen Status bangt. Rechtlich sei sie doch auf der sicheren Seite, wird ihr stets versichert, als wäre damit das moralische Dilemma keines mehr. So konfrontiert uns Jude ein ums andere Mal mit der Hybris und Verlogenheit der bürgerlichen Wohlanständigkeit, die doch stets verdrängt, dass das eigene Wohlsein auf der Ausbeutung anderer beruht. Nebenbei erfährt man auch einiges über die Verfasstheit der rumänischen Gesellschaft; niemand scheint sich dort mehr Illusionen über den moralischen Zustand der Eliten zu machen. Vom grassierenden Nationalismus gegenüber der ungarischen Minderheit bis zur Tatsache, dass die meisten Immobilienentwickler ehemalige Securitate-Mitarbeiter sind, legt Jude den Finger in die vor sich hin eiternden Wunden.

Als »Kino der moralischen Unruhe« bezeichneten Kritiker in den 1970er und 1980er Jahren viele osteuropäische Filme, speziell die frühen Filme von Krzysztof Kieślowski. Damit waren Filme gemeint, die nach der Verantwortung des Einzelnen in der Gesellschaft fragen. Mit seinem moralischen Rigorismus reiht Jude sich in diese filmische Tradition ein. Am Ende seines Films sehen wir kommentarlos eine Abfolge von Standbildern mit monoton einander gleichenden Neubauprojekten für die Mittelschicht, wie sie sich immer weiter in die Landschaft fressen und gewachsene Strukturen überformen. Die Kehrseite der Armut ist ja eine wachsende Mittel- und Oberschicht – sie ist es, welche die Stadt wuchern lässt, da ihr Raum- und Platzbedarf ungleich höher ist. Mit der vorhergehenden Handlung hat dieses Ende wenig zu tun – und lädt deshalb erst recht zum Nachdenken darüber ein, was gutes Leben ausmacht.

»Kontinental ’25«, Rumänien 2025. Regie/Buch: Radu Jude. Mit: Eszter Tompa, Gabriel Spahiu, Adonis Tanta, Oana Mardare. 109 Min.
21.2., 12.30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele; 22.2., 22.15 Uhr, HKW1; 23.2., 18.45 Uhr, Uber Eats Music Hall

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