Geiselübergabe in Nahost: Die Macht der Bilder

Miriam Sachs über die Freilassung von Geiseln im Nahost-Konflikt

Trauer um Schiri Bibas und ihre Kinder Ariel in Tel Aviv
Trauer um Schiri Bibas und ihre Kinder Ariel in Tel Aviv

Das Ausmaß des Krieges in Nahost ist unvorstellbar – zehntausende tote Palästinenser, Gaza eine Trümmerwüste, unendliche Trauer über die getötete Israelis und das ständige Bangen um das Leben der Geiseln. Lange hatte Benjamin Netanjahus Verhandlungsbereitschaft mit der Hamas auf sich warten lassen. Dann endlich kam die Abmachung, die Waffen schweigen zu lassen und Gefangene auszutauschen. Ein Polit-Thriller, der prompt von der Hamas zu einem Horrorfilm gemacht wurde.

Vergegenwärtigen wir uns die vergangene Woche: Kaum jemand in Israel wollte glauben, dass Mitglieder der Familie Bibas tot sind, obwohl sie bereits von der Hamas für tot erklärt wurden. Bei der Übergabe der Leichname am Donnerstag – darunter die beiden Kinder Kfir und Ariel – kam dann die Gewissheit. Särge, ein Netanjahu mit Vampirzähnen im Hintergrund, Hamas-Claqueure jubelten, Kinder klatschten – geschmackloser geht es kaum. Die Leiche der Mutter in einem der Särge erwies sich als eine andere Tote. Ein makabres Propagandaspektakel.

Lesen Sie auch: Tagebuch aus einem zerrissenen Land – Die Journalistin Miriam Sachs ist für »nd« in Israel unterwegs – und schildert hier ihre Eindrücke

Zurecht verurteile die Uno die Hamas-Show. Alle Übergaben bisher waren eine Menschenrechtsverletzung: Israelische Geiseln wurden durch feindliche Massen geschubst oder in schauprozessartigem Machtgehabe vorgeführt. Die Hamas beabsichtigt wahrscheinlich, Stärke zu zeigen. Ein Schuss ins eigene Knie: In Israel hasst man seither nicht nur die Hamas mehr denn je, man ist – hunderte jubelnde Palästinenser vor Augen – davon überzeugt, Gazas Zwei-Millionen-Bevölkerung klatschen gesehen zu haben. Der Krieg kann also weitergehen. Er bedarf der Feindbilder. Und die gibt es jetzt genug.

Miriam Sachs

Miriam Sachs reist seit Jahren immer wieder nach Israel und Palästina. Zurzeit befindet sie sich auch dort und schildert ihre Eindrücke für "nd" in einem Tagebuch.

Der Krieg braucht aber auch Identifikationsfiguren. Keine Seite verzichtet darauf, ehrlich empfundenen Schmerz von Menschen zu nutzen, ihn zu bebildern und auszuschlachten. Leid, Trauer und Verzweifelung sind praktisch omnipräsent. Der Aufschrei über den Tod von Shri Bibas, die Mutter der beiden Kinder, ist deshalb so groß, weil alle in Israel ihr Gesicht kennen. Die Bilder der Geiseln hängen dort gefühlt überall: an Bahnhöfen, an Bauzäunen, in Malls oder bei McDonald’s. Die Macht der Bilder – auch hier zeigt sie sich wieder.

Am Samstag kamen sechs israelische Geiseln frei. Dieses Mal lebend. Die 600 palästinensischen Gefangenen, die im Gegenzug in Bussen auf dem Weg in die Freiheit waren, wirken im Verhältnis dazu wie eine bedrohliche Masse. Die Netanjahu-Regierung verschob die Freilassung. Die Busse machten kehrt. Palästinensische Häftlinge sollen erst dann wieder auf freien Fuß gesetzt werden, wenn die Inszenierungen der Hamas vorbei sind, heißt es.

Wirklich freuen kann sich eh keiner. In Israel nicht, bevor nicht alle Gefangenen zuhause sind. Für die palästinensische Seite ist das Nicht-Freuen bereits Teil des Deals mit Israel: Die Entlassenen verpflichten sich, nach ihrer Rückkehr nicht zu feiern. Solidaritätsbekundungen längs der Straßen unterbindet die israelische Armee, während man Menschenmengen am Hostages Square in Tel Aviv »Bring them home NOW!« skandieren hört. Freude und Schmerz liegen mitunter dicht beieinander.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.