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Patriotismus! Fetischismus! Kretinismus!
Am Staatstheater Kassel zeigt uns Sebastian Baumgarten mit Hector Berlioz den Faust als einen Mann ohne Eigenschaften
Europa? Ist auch nur eine schäbige Jurte, notdürftig mit Ästen auf dem Dach zusammengehalten. An der Seite ein blauäugiger Tiger. Über der Jurte weht eine aufblasbare Jahrmarktfigur im Wind hin und her. Und wenn die Drehbühne den Blick in die Jurte freigibt, sehen wir mal einen Bauerntanz in der ungarischen Puszta, mal Auerbachs Keller in Leipzig, dann wieder Margaretes Zimmer oder auch ein Gefängnis. Das meiste ist nicht schön, wenn man näher hineinsieht in das »europäische Haus«.
Regisseur Sebastian Baumgarten hat das dramaturgische Problem von »La damnation de Faust« (also »Fausts Verdammnis«) von Hector Berlioz, das eher eine Art Chor-Sinfonie, eine Musik-Collage, denn eine Oper ist, elegant gelöst. Sein »Musiktheater nach der Oper« integriert Textfragmente von Nikolaus Lenau, Wolfgang Borchert und Alexander Kluge, die von der Schauspielerin Annett Kruschke immer wieder ins Stück hinein rezitiert werden – besonders eindrucksvoll in einer langen Anti-Kriegs-Szene von Borchert, mit der hier auf fröhlich-sorglose Soldatenlieder reagiert wird.
Der Arrangeur Felix Linsmeier hat in einem gemeinsamen kreativen Prozess mit Dirigent Kiril Stankow, der das Staatsorchester Kassel hervorragend leitet, das Berlioz’sche Klangmaterial, die Märsche, Tänze und Lieder auf ihren archaischen Kern hin skelettiert, und Passagen meist düsterer elektronischer Musik von Stefan Schneider ergänzen das musikalische und gefühlsmäßige Tableau der Aufführung. So fügt sich diese Inszenierung von »Fausts Verdammnis« am Kasseler Staatstheater zu einer beeindruckenden zweistündigen Performance, in der die vage als Nummernoper funktionierenden zwanzig Szenen der Berlioz’schen Komposition zu einer mehrschichtigen Wirklichkeit ausformuliert werden.
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Eines der großen Missverständnisse, die diese Oper seit ihrer Entstehung begleiten, ist ihre vermeintliche Goethe-Ferne. Sicher, Goethes »Faust« war für Berlioz ein großes literarisches Erlebnis, er konnte laut eigener Aussage »nicht widerstehen, einige gereimte Bruchstücke, Lieder, Gesänge« der Prosa-Übertragung »in Musik zu setzen«. Diese Stücke ließ der junge Berlioz auf eigene Kosten drucken und 1829 Goethe in Weimar zukommen. Der soll gebauchpinselt gewesen sein, legte die Partitur jedoch seinem musikalischen Berater Zelter in Berlin vor, der darin nur »lautes Husten, Schnauben, Krächzen und Ausspeyen« sah und das Ganze für eine »Abgeburt … aus gräulichem Inceste« hielt. Musikalisch war Goethe eben leider eher schlecht beraten.
Berlioz jedenfalls zog die ursprüngliche Komposition zurück und beschäftigte sich erst 1845 wieder mit dem Stoff. Nun hatte sich die Welt jedoch drastisch verändert. Goethes »Urfaust« (1785), in dem der Fokus auf der Liebestragödie liegt und Mephisto noch eine Nebenfigur ist, ja, sogar »Der Tragödie erster Teil« (1808) ergaben Mitte des 19. Jahrhunderts keinen Sinn mehr. Die Französische Revolution hatte stattgefunden, die Industrialisierung begonnen, die Eisenbahn war da und mit ihr die Auflösung jeglicher Raum-Zeit-Einheit.
Die industrielle Moderne und mit ihr die wissenschaftlich-technische Unterwerfung (und Entzauberung) bestimmen die Lebens- und Zeitverhältnisse; auch Goethe reagiert darauf mit »Faust II« (1832) und stellt Faust jetzt als Inkarnation des europäischen Machtmenschen dar, als Homo oeconomicus, als Global Player auch. Der aber, ganz im Sinne protestantischer, im Geist des Kapitalismus getränkter Ethik, wie sie Max Weber formulierte, trotz aller Irrungen und Wirrungen in den Himmel kommt. Denn: »Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen«, wie die Engel dem staunenden Publikum am Ende des Dramas verkünden.
Davon kann bei Berlioz keine Rede mehr sein. Pustekuchen, hier kommt keiner in den Himmel. Berlioz schreibt sich seinen eigenen Faust, sowohl im Libretto als auch erst recht in der Musik. Sein Faust ist ein larmoyantes Individuum, ein sozialer Analphabet, der tief in der schwarzen Romantik französischer Couleur watet. »Als wenn es keinen anderen Faust als den von Goethe gäbe. Patriotismus! Fetischismus! Kretinismus!«, entgegnete Berlioz auf Vorwürfe deutscher Kritiker.
Der Dramaturg der Kasseler Aufführung, Kornelius Paede, begreift in seinem brillanten Programmheft-Essay folgerichtig den »Stoff als eine europäische Parabel, nicht ein exklusiv deutsches Nationalheiligtum«. In Baumgartens Inszenierung erscheint uns Faust als ein Vorgänger von Flauberts Frédéric Moreau aus »L’Éducation sentimentale« oder als ein »Mann ohne Eigenschaften«. Er ist ein romantischer Sinnsucher, ein allem Gesellschaftlichen sich verweigernder, nur dem eigenen Bauchnabel als Zentrum aller Gefühle oder Erkenntnisse verpflichteter Slacker. Er ist »unfähig, isoliert, impotent: so lautet die Diagnose, die der Berliozsche Text Faust freudianisch ausstellt«, wie der Romanist und Musikwissenschaftler Hermann Hofer dem vermeintlichen Helden attestiert.
Natürlich ist solch ein Faust ein autoritärer Charakter. Auf die fortwährend brennende Welt Mitte des 19. Jahrhunderts (und natürlich unserer Zeit) reagiert Berlioz’ Faust kraftlos und lethargisch, »achtsam«, wie man heute so sagt, vornehmlich sich selbst gegenüber und ansonsten voller romantischer Sehnsüchte und Träume, im Zweifel aber eben allzeit bereit zu autoritärer Gefolgschaft. »Banalität des Bösen«, meint bei Hannah Arendt ja ausdrücklich: »Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist.«
Soweit der intellektuelle Überbau dieser Inszenierung. Doch wir wären nicht am Staatstheater Kassel, wenn dies alles nicht äußerst sinnlich und in Teilen geradezu vergnüglich auf die Bühne gebracht würde. So wie Berlioz immer wieder mit »polymetrischen Überblendungen spielt, mit denen der Komponist Handlungs- und Bewusstseinsebenen übereinander schichtet« (Ulrich Schreiber), so gelingt auch Sebastian Baumgarten ein über- und manchmal auch durcheinander konstruiertes Panoptikum unterschiedlichster Szenen, Stimmungen und Handlungen, die um die Jurte geschart werden.
Faust erwacht tief in Europa, er hängt in der ersten Szene in Ungarn herum, ergießt sich in einer Hymne über die frühlingshafte Natur: »O Wonne, zu genießen der Ruh’ friedlicher Fluren, / Fern aller Menschen Kämpfe und fern ihrem Gewühle!« Die Natur als Gegenpol zur Industriegesellschaft, zu den Menschen, vor denen er sich im Grunde ekelt – fern sind ihm die »Massen«, fern ist die Moderne. Er beobachtet teilnahmslos, aber doch auch ein wenig neidisch eine bäuerliche Hochzeitsgesellschaft mit ihrem munteren Tanz – »um ihre Lust muss ich Armer sie neiden«.
Soldaten ziehen vorbei, der berühmte ungarische Rákóczy-Marsch erklingt, ein Bravourstück, mit dem Berlioz auf einer Konzertreise 1845/46 in Budapest für einige Furore gesorgt hat. Diesen Marsch hat Berlioz – dem 1831 von Metternichs Polizeistaat die Einreise nach Österreich verweigert worden war – bewusst als politische Stellungnahme zugunsten der ungarischen Revolution für die Loslösung vom Habsburgerreich komponiert. Doch Faust bleibt außen vor; ihm ist zwar klar, dass die aufständischen »Söhne der Donau (…) für die Heimat, für die Freiheit, für Recht streiten«, aber er schließt sich der revolutionären Bewegung nicht an, sein »Herz bleibt kalt, selbst dem Ruhme verschlossen«. Ulrich Schreiber erklärt diesen Faust zum »Vorfahr des Johannes Faust bei Hanns Eisler, der mit dem Verrat an Thomas Müntzer die Bauernschaft insgesamt verrät und zum Anführer einer mörderischen Reaktion wird« (was die DDR-Führung 1954 als Schändung von Goethes Kulturerbe verteufelte, Mephisto sei’s geklagt).
Da kommt just dieser Méphistophélès gerade recht, er bietet Faust an, der sich gerade noch weinerlich mit Suizidgedanken beschäftigt hat, alle seine Wünsche zu erfüllen. Und schon fliegen die beiden nach Leipzig, in Auerbachs Keller, wo sie dumpfen Säufern beim Grölen dubioser Lieder begegnen. Die blasphemische »Amen«-Fuge, die der Chor besoffen lallt, ist ein musikalischer Höhepunkt des Abends. Doch Faust will rasch wieder fort von »diesem Ort, wo jedes Wort beleidigt, der Menschen Frohsinn und Witz mich verstimmt«. Hat der Teufel denn wirklich »kein traulich Plätzchen« für Faust, kein traulich Lied? Er hat!
Méphistophélès bringt Faust zu den Elbauen und singt ihm ein Schlummerlied, begleitet von süßen Holzbläserklängen, durchmischt mit Posaunentönen, Mephistos Leitinstrument. Traumwesen lullen Faust ein, die Violinen deuten eine Walzermelodie an, er erblickt das Fantasma einer Frau: Marguerite. Auch sie ist in die Traumgespinste des Méphistophélès verstrickt und hat Faust im Traum gesehen. Als sie erstmals auftritt, sinnigerweise mit der übermäßigen Teufels-Quart, singt sie das archaisierende altdeutsche Lied vom König in Thule, eine Behauptung eherner Treue.
Bei der ersten Begegnung der beiden kommt es zu einem gegenseitigen Liebesgeständnis, die Liebesnacht bleibt jedoch aus (wir erinnern uns an Hofers Diktum: Faust ist »unfähig« und »impotent«). Marguerite ist für den Faust nur die Traumvorstellung einer »idealen Frau«, fernab jeglicher Realisierung einer wie auch immer gearteten Liebesbeziehung. Stattdessen ergeht sich der ewige Zauderer in Lebensekel, Selbstmitleid und naturreligiöser Entgrenzung. Faust ist weniger in Liebe zu Marguerite entbrannt als in sein eigenes Gefühl von »Liebe«.
Erst als er erfährt, dass Marguerite gefangen genommen wurde, weil sie in Erwartung Fausts ihrer Mutter Abend für Abend ein Schlafmittel verabreicht hatte, woran diese schließlich starb – erst dann wird Faust kurz zu einem verzweifelt Handelnden, unterschreibt endlich einen Vertrag mit Méphistophélès, um Marguerite zu retten. Die beiden wollen nach dem Vertragsschluss zu Marguerite eilen, doch ihr Ritt führt direktemang in die Hölle. Keine Erlösung, nirgends.
Die Sänger*innen sind hervorragend: Eric Laporte als larmoyanter, herrlich eigenschaftsloser Faust, die wunderbare Ilseyar Khayrullova als liebende, dann verzweifelte, dann von der Polizei festgenommene, tragische Marguerite, und last but not least Filippo Bettoschi als faszinierend zockender Méphistophélès, mal in einer tollen Bänkelsang-Szene in purpurrot-violettem Seidenmantel und schwarzem Räuberhut am Kontrabass, aber auch als Geschäftsmann im dubiosen Teufels-Business.
Allen voran aber trägt der riesige Chor diese Aufführung, fast schon im griechischen Stil, die Handlung nicht nur vorantreibend, sondern immer wieder auch kommentierend: Die über achtzig Sänger*innen des Opern- und des Extrachores des Staatstheaters Kassel sind nicht nur eine musikalische Macht, sondern auch eine immens spielfreudige Bande, der man gebannt zuschaut, ob bei der Bauernhochzeit oder in Auerbachs Keller, ob als Chor der Irrlichter oder als in Kardinalsrot getauchte Osterhymnen-Vereinigung, ob als zunehmend bedrohlicher werdender, schließlich in Schwarzhemden auftretender Polizeichor oder auch mal als übler Soldatenchor, der scheußliche Männergesänge anstimmt (zu denen Berlioz eine genial schauerliche Musik geschrieben hat): »Beim Klang der Trompeten ziehen die Tapferen aus (…) Mädchen und Burgen, so sehr sie sich sträuben, ergeben sich uns doch bald (…) Burgen mit hohen Mauern und Zinnen, Mädchen mit stolzen, höhnenden Sinnen (…) Mädchen und Burgen müssen sich geben.« Männerfantasien. Der Faschismus, wenn er kommt, ist grundsätzlich misogyn.
Der Ritt in die Hölle ist, ganz Berlioz’sche Effektzauberei, ein faszinierender Höllenritt: das große Finale einer hinreißenden Inszenierung. Die Teufel und die Verdammten singen in einem merkwürdigen Kauderwelsch »Diff! diff! merondor, merondor aysko!«, und »Has! Has! Satan! has! has! Belphégor!«, immer mehr kristallisiert sich das bedrohliche Wort Hass heraus: »Hass! Hass! Méphisto!« Die Jurte ist in Rauch gehüllt. Europa, das ist die Hölle.
Nächste Vorstellungen: 9., 21. und 29. März
www.staatstheater-kassel.de
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