Der Abgrund Zeit

Levin Westermann überdenkt die Zivilisation, sein Ausgangspunkt sind weniger die Menschen als die Tiere

  • Alieren Renkliöz
  • Lesedauer: 4 Min.
Auf in die Zukunft ohne die Menschen: Wildgänse im Oderbruch, Brandenburg
Auf in die Zukunft ohne die Menschen: Wildgänse im Oderbruch, Brandenburg

Wir erleben derzeit das sechste Massensterben auf diesem Planeten. Die Ausmaße sind vergleichbar mit dem Ende der Dinosaurier – und wir sind schuld. Es werden weiter SUVs gekauft und der Faschist, der nun die USA regiert, wettert gegen erneuerbare Energien und gießt Öl ins Feuer dieser brennenden Erde.

Sind wir nicht gelangweilt vom Alarmismus? Von diesen großen Dimensionen? Wer diskutiert noch Lösungen für den Klimawandel? Steppenbildung in Deutschland, 40 Grad im Sommer und vom Winterschlaf zu früh aufwachende, dann sterbende Igel – es ist keine Neuigkeit mehr, so etwas zur Sprache zu bringen.

Levin Westermanns autofiktionaler Erzähler aus seinem Debütroman »Zugunruhe« kann all das nicht hinnehmen. Er zieht sich immer öfter im Wald zurück, liest stundenlang dicke Wälzer und exzerpiert sie, schreibt Essays über die Beziehung des Menschen zu den anderen Tieren und ist fassungslos, wie sehr die Menschheit alles zerstört. Um dies aufzuhalten, ruft er schließlich zu politischer Gewalt auf. Westermanns Sprache ist durchgehend unprätentiös und klar. Wo die Wut schreit, wird sie sanft beschrieben. Die titelgebende Zugunruhe ist die Rastlosigkeit, die Zugvögel erfasst, wenn sie spüren, dass sie einen unwirtlich werdenden Ort verlassen müssen. Geht es uns nicht allen wie diesen Vögeln? Die einen wollen reaktionär in eine verklärte Vergangenheit zurück und die anderen wollen die Probleme lösen und eine neue Gesellschaft errichten. So oder so, hier, im Jetzt will niemand bleiben.

Warum auch? Westermanns Protagonist beobachtet globale Eliten, die mit Weltraumkolonialismus, digitaler Hybris und Rassismus von der planetaren Zerstörung ablenken: »Ein Teil der Menschheit hatte beschlossen, dass alles längst verloren war, denn anders ließ sich das Verhalten von Konzernen und Nationen oft nicht erklären. Das Schiff näherte sich also nicht erst dem Eisberg, sondern hatte ihn schon längst gerammt und sank und also galt es nur noch, Panik zu vermeiden und dies so lang wie möglich zu verschleiern.«

Für »Zugunruhe« erhielt Westermann, der bisher vor allem als Lyriker und Essayist aufgetreten ist, den hoch dotierten Niederrheinischen Literaturpreis. In seinen Gedichten verschwinden die Bäume und Füchse führen die Protagonisten durch eine untergehende Zivilisation.

»Unsere Bedeutungslosigkeit im Angesicht der Zeit, dies war ein Motiv, das mich schon seit Jahren beschäftigte, und immer, wenn ich zu lange über das Thema nachdachte«, schreibt Westermann, »erfasste mich eine Art von Schwindel ob der Urkräfte und Kreisläufe, die ihn weiterhin formten und gestalteten. Vertigo. Der Abgrund Zeit.« Der Sachbuchautor John Mcphees gesteht der Menschheitsgeschichte auf seiner geologischen Zeitskala maximal den Bruchteil eines Millimeters zu.

Westermann blickt genau dorthin, in die Vergangenheit und in die Zukunft ohne uns. Gletscher kratzten die Flächen von New York in den vergangenen 10 000 Jahren dreimal völlig leer. Irgendwann wird die nächste Eiszeit kommen und mit ihr werden die Gletscher zurückkehren: »Hunderte von Metern hoch, werden sie Richtung Süden wandern, um alles zu begraben, um alles zu zermahlen – Verwandlung der menschlichen Spuren in Staub.« Da ist er wieder: Vertigo, der Schwindel vor dem Abgrund der Zeit.

Wenn die Gletscher sich dann zurückzögen, würden zukünftige Geologen in den Gesteinsschichten hohe Konzentrationen von Metall finden: »Die Überreste unserer Wasserleitungen und Kabel.« In Westermanns Denken ist das Ende der Menschheit immer gewiss, doch das Bewusstsein der Vergänglichkeit führt bei ihm nicht zu Hedonismus, sondern zu Rücksicht: Wir sind nicht der Nabel der Welt und wir teilen diesen Planeten mit etlichen anderen Lebensformen.

Gibt es irgendwo ein Denkmal für die Rhesusaffen, die für die Entwicklung des Corona-Impfstoffes herhalten mussten? Für Westermann repräsentiert der Umgang mit diesen Primaten unser fortwährendes moralisches Versagen: »Im System war kein Platz vorgesehen für das Leid der Affen, und ich war mir ziemlich sicher gewesen, dass die Entdecker des Impfstoffes in ihren Reden bei Preisverleihungen und Shareholder Meetings nicht den Affen gedankt hatten, über deren infizierte Körper sie zu Ruhm und Reichtum gelangt waren.«

»Zugunruhe« ist eine Art literarisches Gewissen, das man aufschlagen kann. Die Leser*in wandert in den nebligen Wald, der auf dem Cover abgebildet ist und merkt, das Reh, das dort steht, stellt berechtigte Ansprüche an uns Menschen. Werden wir sie erfüllen können? Und hängt das Wohl der menschlichen Zivilisation an dieser Frage?

Levin Westermann: Zugunruhe. Matthes & Seitz, 192 S., geb., 22 €.

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