Tagebuch aus Israel: Ein totes Kind

Die Journalistin Miriam Sachs ist für »nd« in Israel unterwegs – und schildert hier ihre Eindrücke

Die tote Leyla mit Mutter Tayma
Die tote Leyla mit Mutter Tayma

10. März 2025: Ein Dorf hinter Jenin, ein ganz normales Haus. Aus dem Fenster gucken mindestens vier Köpfe. Schwestern? Cousinen? Tayma? Überlege den ganzen Morgen: Was frage ich eine 22-Jährige, deren Mann vor zwei Jahren an einer Krankheit gestorben ist, die wieder bei ihren Eltern lebt und jetzt ihre zweieinhalb Jahre alte Tochter verloren hat? Im Netz ein Video gefunden, in dem sie von einer Razzia der israelischen Armee erzählt und sagt, dass sie sich an die Welt wende, weil »Leyla das gewollt hätte«. Mir fällt nur die Frage ein: Willst du nicht lieber deine Ruhe? Habe die Frage auf Arabisch auswendig gelernt, weil ich sie ihr direkt stellen will.

»Tayma hat sich zurückgezogen, sie braucht Ruhe. Sie liegt in ihrem Schlafzimmer mit der Decke über dem Kopf. Sie kann nicht mehr über Leyla reden!« Das sagt Bassam, ihr Vater. Ihm ist es umso wichtiger.

Taymas Mutter bringt Kaffee in kleinen Pappbechern; sie huscht durchs Zimmer, als wäre sie nicht da. Nur der Kaffee beweist ihre Anwesenheit. Bassam, ein Biologielehrer, wirkt wie ein Mann, der sich im Ausnahmezustand befindet: »Ich will, dass die Welt weiß, was hier in unserer Wirklichkeit passiert.«

Tagebuch aus Israel

Miriam Sachs ist Autorin und Theatermacherin. Ihre Arbeit brachte sie immer wieder nach Gaza. Als im August 2024 der neunjährige Sohn ihres Kollegen Deeb von einer Drohne angeschossen wurde, versuchte sie vergeblich, das Kind zur Behandlung nach Deutschland zu bringen. Ebenso wenig hatte ihr Versuch Erfolg, einen Koffer mit Hilfsmitteln nach Gaza zu bringen. Nun ist sie für einige Wochen wieder in Israel unterwegs – nicht nur, aber auch, um den rosa Rollkoffer doch noch an sein Ziel zu befördern. Für »nd« führt sie ein Tagebuch.

Die Wirklichkeit ist unvorstellbar: Die Familie sitzt beim Essen, draußen ist (weit weg) irgendein Lärm. Als man aufsteht, um nachzusehen, schallt es plötzlich schon sehr nah aus den Lautsprechern der Drohnen. Ein Blick aus dem Fenster, man versteht gerade, dass man das Haus verlassen soll, da schießen schon die Sniper vom Hauses gegenüber. Bassam und seine Frau ducken sich, Tayma mit Leyla ebenso im angrenzenden Schlafzimmer, dessen Tür zum Esszimmer nur einen Spalt breit offen ist. Ihr Körper bedeckt ihre Tochter fast ganz – bis auf einen Teil des Kopfes. Genau dort trifft die Kugel, die durch das Fenster und durch den Spalt der Tür gegangen ist.

Der Tod des Mädchens ist alles andere als ein Unfall. Die Taktik, mit der die israelische Armee ihre Razzien auch in der Westbank durchführt, ist wie bei einem Schnellkochtopf, der unter hohen Druck gebracht wird, bevor er geöffnet werden kann. Der Abzug am Deckel soll in diesem Fall nicht den Dampf, sondern die Eingekesselten ins Freie treiben. Und dennoch wird immer wieder wild drauflosgeschossen. Ein Militär, das über hochintelligente Waffen verfügt, ballert rum. Der Soldat, den Bassam – seine noch lebende Enkelin im Arm – angeschrien hat, warum er auf Kinder schieße, habe »Sorry« gesagt. Ein Krankenwagen wurde nicht gerufen.

Nahost – Tagebuch aus Israel: Ein totes Kind

Die grausame Taktik der Hamas, Zivilisten als Schutzschilde zu benutzen, beantwortet die israelische Armee mit dem Pars-pro-Toto-Umkehrschluss: Wenn die Linie so schwer zu ziehen ist zwischen Hamas und Zivilbevölkerung, warum nicht gleich alle über einen Kamm scheren und schießen. Irgendeinen Terroristen trifft man dann immer.

Die unfassbare Tragödie und die seltsame Normalität des Hauses. Als wir gehen, huschen wieder die Töchter (?) Cousinen (?) durchs Haus. Ein fernes Selfie von dort, ein Winken von mir. Herzliches Willkommen-gewesen-Sein, trotz alledem und gerade deshalb. Tayma bleibt eine Leerstelle.

Ich denke wieder an Qais, den verletzten Sohn von meinem Freund Deeb. Der große Unterschied ist: Er lebt. Irgendwo hinter Kairo in einer Klinik. Rufe abends bei einer NGO an, um zu erfahren, ob ich das Spendengeld überweisen könne. Höre, dass der Auftrag noch nicht weitergeleitet werden kann. Man wolle abwarten, ob die Mutter und der Junge überhaupt in Kairo bleiben. Ich bereue, nicht doch dorthin gefahren zu sein.

Die Rückfahrt nach Jerusalem führt über ein Dorf. Mein Fahrer R. kauft Holz. Ich laufe die Dorfstraße auf und ab, fotografiere ein Schablonen-Graffito an einer Wand. Es zeigt Izzeddin Al-Qassam, ein Gelehrter und einer jener ersten Kämpfer, die in den Widerstand gegen die britische Kolonialmacht gegangen sind. Nach ihm wurden die Qassam-Raketen der Hamas benannt.

Leyla

Die Sonne steht tief, vier Mädchen hüpfen den Weg vom Dorf den Hügel hinunter. Wir fahren weiter. R. sagt: Früher sei in der Westbank noch Hoffnung gewesen. Die Palästinenser hätten oft selbst israelische Soldaten zu Hilfe rufen können, und oft sei gegen die Siedler eingeschritten worden. Oder zumindest Ruhe eingekehrt. »Seit Israel im Krieg ist, sind aber so ziemlich alle beim Militär. Die Chance ist groß, dass es die Siedler selbst sind, die jetzt in der Unifrom stecken.«

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