»Wir vergessen die Menschen in Gaza nicht«

Die Psychologin Katrin Glatz Brubakk betreut Zivilisten im Nahostkrieg, deren Leiden mit dem Stopp der Bombardierungen nicht enden

  • Interview: Melanie M. Klimmer
  • Lesedauer: 8 Min.
Palästinenser versammeln sich in Dschabalia im nördlichen Gazastreifen um ein Feuer, um sich aufzuwärmen. Sie leben in Trümmern.
Palästinenser versammeln sich in Dschabalia im nördlichen Gazastreifen um ein Feuer, um sich aufzuwärmen. Sie leben in Trümmern.

Ende Februar kamen Sie von einem Hilfseinsatz im Nasser-Hospital in Khan Junis und in Deir Al-Balah zurück. Dort leiteten Sie ein psychologisches Versorgungsteam für kriegsversehrte Kinder. Wie haben Sie die Situation der Menschen unmittelbar vor dem Waffenstillstand am 19. Januar in Gaza erlebt?

In der Nacht zuvor wurde noch intensiv geschossen; es fielen viele Bomben. Wir haben die Nacht deshalb in unserem »Safe Room«, unserem Büro, verbracht, weil wir uns nicht trauten, nach Hause zu fahren. Ein paar Familien mit kleinen Kindern, die ganz in der Nähe in Zelten wohnten, waren bei uns untergebracht. Eine Frau hatte in dieser Nacht, als die Bomben ziemlich nah herankamen, eine schreckliche Panikattacke, weil sie vom Krieg schon so stark geprägt war. Als sich dann alles beruhigte und der Waffenstillstand endlich beginnen sollte, kam ein Kollege mit einem Missile-Trümmerteil, einer Lenkrakete, zu uns her und sagte, dieses Geschoss sei gerade durch seinen Wassertank und das Toilettenhäuschen hindurch und fünf Zentimeter von seinen Füßen entfernt liegengeblieben. Hätte er nur einen Schritt mehr gemacht, wäre er wahrscheinlich tot oder hätte zumindest sein Bein verloren, und das nur zwanzig Minuten, bevor der Waffenstillstand in Kraft treten sollte.

Wie haben Sie die Stimmung in Gaza wahrgenommen?

Zahllose Menschen leiden unter Depressionen und Zukunftsängsten. Viele haben Panikattacken und Unruhezustände, können nicht schlafen. Als die Waffen endlich schwiegen und die Menschen sich nicht mehr so sehr fürchten mussten, konnte man spüren, wie der extreme Stresslevel sehr langsam abnahm. Doch jetzt kommen die Erinnerungen hoch und eben auch die völlige Erschöpfung. Die Leute haben nicht mehr so viel Kraft, ihren Alltag zu bewältigen. Alles, was sie 15 Monate lang wegstecken mussten, weil sie überleben mussten, kommt jetzt in einer »Trauer des Friedens« hoch. Nur sehr langsam können sie nun die großen Verluste von Familienmitgliedern, Eltern, Haus, vom gewohnten Leben, von Freunden, der Schule verarbeiten. Die Unsicherheit bleibt. Keiner weiß richtig, was jetzt kommt. Ich fürchte, dass, wenn der Waffenstillstand nicht anhalten sollte, wir viele Menschen sehen werden, die einfach innerlich kollabieren, da ihnen die letzte Hoffnung genommen würde, wieder zurück ins Leben zu finden. Es würde die Möglichkeit, diese Erlebnisse zu verarbeiten, weiter hinauszögern.

Nach Angaben des UN-Menschenrechtsbüros sind 70 Prozent der seit dem Kriegsbeginn von der israelischen Armee getöteten 45 000 palästinensischen Zivilisten Frauen und Kinder. Kinder zwischen fünf und neun Jahren stellen demzufolge den höchsten Anteil. Welche mentalen und psychischen Spuren hinterlässt der Krieg in der palästinensischen Zivilbevölkerung?

Kein Mensch in Gaza ist nicht von diesem Krieg betroffen. Jeder in Gaza hat fast alles verloren. 15 Monate lang haben die Menschen in der Furcht gelebt, dass sie selber oder jemand, den sie lieben, getötet werden könnte. Der Stresslevel in Gaza ist extrem hoch, weil die Gefahr so langanhaltend und groß war. Solcher Stress wirkt sehr lange im Körper nach. Auf Kinder wirkt sich der Stress besonders stark aus: Manche schlagen und treten, schreien laut, manche reißen sich die Haare aus Verzweiflung aus, beißen sich, bis sie bluten, weil sie nicht wissen, wohin mit ihrer Unruhe. Diese Kinder fallen auf, weil man ihre Verzweiflung sehen kann. Andere reden, essen und spielen nicht mehr. Ihre ganze Kraft, die sie für ihre Entwicklung bräuchten, setzen sie für das Überleben ein. Nur in mühevoller und langwieriger Arbeit lässt sich dieses verlorene Vertrauen in die Erwachsenenwelt wiederherstellen, und es braucht Zeit, sie ins Leben zurückzulocken. Psychologische Hilfe aber ist sehr schwierig: Alle Stützmechanismen, die wir bei traumatisierten Menschen zur Heilung einsetzen – zum Beispiel ein geregelter Alltag, soziale Unterstützung und Freunde oder in die Schule gehen – und die dabei helfen könnten, wieder ins normale Leben zurückzufinden, sind weggebombt. Die Folgen des Krieges werden die Gesellschaft über Jahre hinaus prägen.

Interview

Katrin Glatz Brubakk ist Kinderpsychologin und Kinder-Traumatherapeutin in Trondheim, Norwegen. Sie war für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen unter anderem auf der griechischen Insel Lesbos, in Ägypten und der Türkei im Einsatz. Zuletzt leitete sie für mehrere Wochen das psychologische Versorgungsteam für kriegsversehrte Kinder im Nasser-Krankenhaus in Khan Junis und in Deir Al-Balah in Gaza.

Können kriegsversehrte und schwer kranke Zivilisten außer Landes gebracht werden? Ärzte ohne Grenzen spricht in einem Bericht von einer überwältigenden Anzahl von Kriegsverletzten, die aufgrund der israelischen Blockadepolitik vermeidbare Infektionen, Amputationen und dauerhafte Behinderungen erlitten haben.

Etliche Patienten stehen auf der medizinischen Evakuierungsliste. Leider schaffen es nicht alle, rechtzeitig aus Gaza rauszukommen. Für manche Patienten, vor allem für Krebspatienten und chronisch Kranke, kommt die Evakuierung oft zu spät. Andere schaffen es, wie zum Beispiel eine Patientin mit Beinverletzung, die ich bei meinem ersten Gaza-Einsatz im Sommer kennengelernt habe. Sie hatte sich mit einer schweren Wundinfektion wieder vorgestellt und wurde über die Warteliste dann nach Ägypten evakuiert. In Gaza wäre es nicht möglich gewesen, das Bein zu retten. Einem zweieinhalbjährigen Mädchen mussten sie beide Beine amputieren. Sie erhält nun in den USA medizinische Rehabilitation und Beinprothesen, damit sie wieder gehen kann.

Wer kümmert sich um hinterbliebene Kinder?

Sehr viele Waisen, die ihre Eltern verloren haben, haben Familienmitglieder, Onkel, Tanten, die sie aufnehmen können. Kinder, die überhaupt keinen haben, erhalten in SOS-Kinderdörfern die Pflege und Fürsorge, die sie brauchen.

Es wird gewaltige Anstrengungen kosten, die Kriegsfolgen zu beseitigen.

Ja, die Konsequenzen des Krieges sind so umfangreich, weil jeder in Gaza betroffen ist. Die Zerstörungen sind enorm. Die Folgen sind auch deshalb so umfangreich und alarmierend, weil die Menschen nicht aus Gaza fliehen konnten. Man konnte und man kann von hier nicht flüchten. Daher müssen wir so viele Ressourcen wie möglich aufbringen, um die lokalen Hilfskräfte in die Lage zu versetzen, die Traumata dieses Krieges zu heilen.

Wie war die gesundheitliche Versorgungslage im Nasser-Hospital?

Nach dem Waffenstillstandsabkommen war sie zunächst deutlich besser geworden, weil mehr Hilfsgüter nach Gaza reinkamen. Es fehlte aber immer an medizinischem Equipment. Mit der Entscheidung der israelischen Regierung vom 2. März, erneut keine Hilfskonvois nach Gaza durchzulassen, ist die Zukunft wieder ungewiss. (Mit der erneuten Schließung der Grenzübergänge im Gazastreifen und der Versagung des humanitären Zugangs übt die israelische Regierung maximalen Druck auf die Hamas aus. Sie ihrerseits will ihre israelischen Geiseln erst freilassen, wenn Israel zu einer dauerhaften Waffenruhe mit den Palästinensern bereit ist. Anm. d. Red.)

Wie geht es dem lokalen Gesundheitspersonal?

Alle Mitarbeiter, die ich erlebt habe, sind selbst traumatisiert. Manche haben die Erstürmung und Evakuierung des Nasser-Hospitals vor einem Jahr oder die Zerstörung anderer Krankenhäuser im Norden Gazas und in Rafah miterlebt. Was meine Kollegen leisten, ist unfassbar: Sie leben selbst im Krieg, haben alles verloren und trotzdem geben sie anderen Menschen so viel Fürsorge. Sie sagten mir, dass dies das Einzige sei, was doch Sinn mache und sie weitermachen ließe in dieser Situation, in der alles sinnlos erscheine: wenn sie anderen Menschen helfen, und wenn sie fühlen können, dass sie einen Unterschied machten und dazu beitragen könnten, dass es anderen Menschen besser gehe. Ich habe mich oft gewundert, woher sie diese Kraft nehmen, wie sie das schaffen. Viele Kollegen sagen aber auch, dass sie es sich nicht erlauben könnten, darüber nachzudenken und wirklich zu spüren, wie es ihnen selbst geht; denn dann würden sie zusammenbrechen.

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Was hinterlässt Ihr Abschied in Khan Junis?

Gaza wieder verlassen zu müssen, ist immer schwierig. Es macht mir jedes Mal die Ungerechtigkeit in der Welt deutlich. Ich kann wieder nach Norwegen zurück, friedlich in einem Haus leben, meine Familie ist sicher. Meine Kollegen hingegen müssen an einem Ort bleiben, an dem alles zerstört ist. Sie müssen Sorgen um ihre Kinder haben, ihre Zukunft, um alles. Mit manchen Patienten halte ich den Kontakt aufrecht. Für sie ist es eine Unterstützung, zu wissen, dass ich sie nicht gleich wieder vergesse. Und für mich ist das Gefühl wichtig, ihnen weiterhin beizustehen, auch wenn ich nicht mehr da sein kann. Mein Körper ist in Norwegen, meine Gedanken und mein Herz aber sind in Gaza.

Gibt es Zeichen der Hoffnung?

Ja, es gibt immer Hoffnung. Wenn ein Kind, das sich von der Außenwelt ganz zurückgezogen hat, langsam wieder anfängt, uns anzuschauen und anzulächeln, es wieder spielt und schlafen kann – das gibt wahnsinnig Hoffnung. Wenn eine Patientin, die sich das Leben nehmen wollte und überhaupt keinen Lichtpunkt mehr hatte, wieder Lebensmut und Hoffnung auf ein gutes Leben schöpft, wieder anfängt, ehrenamtlich als Lehrerin zu arbeiten und Freude daran hat, wenn Kinder in all den Trümmern wieder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Für mich ist es ein großes Geschenk, solche Verwandlungen mitverfolgen zu dürfen. Sie geben mir Hoffnung für die Menschheit. Es zeigt mir, wie viel Lebenskraft und Resilienz die Menschen haben. Es ist sehr wichtig für die Menschen in Gaza, dass wir sie gerade jetzt nicht vergessen. Dass wir uns engagieren und darüber sprechen, gibt ihnen Mut und Hoffnung, das Ganze zu überstehen und zu überleben.

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