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Der Oscar-prämierte Film »Für immer hier« erzählt eine Familiengeschichte aus der Zeit der Militärdiktatur in Brasilien
Als der ehemalige Kongressabgeordnete Rubens Paiva (Selton Mello) im Dezember 1971 während der Militärdiktatur in Brasilien festgenommen wird, sagen die Beamten seiner Familie, er käme bald wieder frei. Aber erst ein Vierteljahrhundert später erhalten seine Ehefrau Eunice Paiva (Fernanda Torres) und ihre fünf Kinder die offizielle Benachrichtigung durch die Regierung, dass der sozialdemokratische Politiker unmittelbar nach seiner Verhaftung gefoltert und ermordet wurde.
»Für immer hier«, der in diesem Jahr den Oscar als bester internationaler Film gewonnen hat, erzählt diese Geschichte aus der Perspektive der Familie Paiva in einem aufwühlenden und verstörenden, fast zweieinhalb Stunden dauernden Film, der die Zuschauer von der ersten bis zur letzten Minute mitreißt. Walter Salles Film basiert auf dem 2015 erschienenen, autobiografischen Buch von Marcelo Paiva, dem Sohn des verschleppten Politikers, über dessen Verbleib die Familie jahrelang nichts wusste.
Regisseur Walter Saller, selbst Freund der Kinder der Familie Paiva, verbrachte nach eigenen Angaben viel Zeit in deren Haus. Dabei besticht sein Film »Für immer hier« nicht nur durch die politische Aufarbeitung jener Zeit, als eine rechte Junta Brasilien von Mitte der 60er bis Mitte der 80er Jahre regierte, sondern durch die feinfühlige und persönliche Erzählweise, die den familiären Kosmos der Paivas ungemein lebendig in Szene setzt.
Die Ehefrau des Politikers, der von der Junta als Kongressabgeordneter Mitte der 60er abgesetzt worden war und kurz vor seiner Festnahme politisch Verfolgten half, aber nichts mit dem bewaffneten Widerstand jener Zeit zu tun hatte, wurde ebenfalls verhaftet und tagelang verhört. Auch die heranwachsende Tochter wurde von den Militärs verschleppt, aber bald wieder freigelassen.
»Für immer hier« zeigt eindringlich, wie die Junta die Familie Paiva in Angst und Panik versetzt. Außerdem werden die Paivas über den Verbleib ihres verhafteten Familienangehörigen im Ungewissen gelassen. Kommt er wieder frei? Wo ist er? Lebt er überhaupt noch? Was geben die Behörden zu und was leugnen sie? Wie schafft es die Mutter, die Familie zusammenzuhalten?
Da der Mann fehlt, kann sie plötzlich kein Geld mehr vom gemeinsamen Konto abheben. Die eigentlich gutbürgerliche Familie rauscht in die Pleite. Die älteste Tochter ging noch vor der Verhaftung des Vaters mit Freunden der Familie, die einen linken Verlag und Buchladen betrieben, nach London, kehrt aber dann wieder zurück. »Für immer hier« lässt diese Familie, ihre Ausflüge zum Strand, die Liebe zur Musik, die Fußballkunststücke vor der Haustür und das Lebensgefühl der 70er Jahre aufleben. Bis die Brutalität der Diktatur in diesen Familienkosmos mit zerstörerischer Gewalt einbricht.
Ähnlich wie den Paivas ging es auch vielen anderen Menschen in Brasilien zu jener Zeit. Tausende wurden damals entführt, verschwanden in Folterkellern und wurden ermordet. Gleichzeitig gelten die 70er Jahre in Brasilien als ökonomische Boom-Zeit. Vor allem deutsche Firmen investierten damals kräftig in das Land, unter anderem spielte VW in São Paulo eine unrühmliche Rolle. Der Werkschutz des Tochterunternehmens »VW do Brasil« soll nach Recherchen von NDR, SWR und »Süddeutscher Zeitung« aus dem Jahr 2017 mit der Junta zusammengearbeitet und Arbeiter an die Behörden ausgeliefert haben, wofür der Konzern mittlerweile auch Entschädigungen zahlte.
»Für immer hier« zeigt den ganz banalen Alltag der Eltern und der Heranwachsenden in Rio de Janeiro. An allen Ecken gibt es Militärkontrollen. Auf dem Hof der Kaserne, wo Eunice Paiva schließlich den Wagen ihres Mannes abholt, stimmen Polizisten Lieder an, in denen Tränengassalven und die eingeschlagenen Schädel politischer Gegner besungen werden. Mitunter ist das kaum auszuhalten.
Rubens Paiva wurde im Laufe der Jahre zu einem der bekanntesten »Verschwundenen« in Brasilien, was vor allem mit dem Engagement seiner Frau zu tun hatte, die sich nicht einschüchtern ließ, stattdessen ein Jurastudium aufgenommen hatte, das sie im Alter von 49 Jahren abschloss, und sich massiv für eine Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur einsetzte.
Für ihre großartige Darstellung der Eunice Paiva erhielt Fernanda Torres bereits einen Golden Globe und war auch für den Oscar als beste weibliche Hauptdarstellerin nominiert. Die Dreharbeiten zu »Für immer hier« begannen in Brasilien während der Amtszeit von Jair Bolsonaro. Das verleiht diesem ebenso großartigen wie verstörenden Film eine beängstigende Aktualität. Regisseur Walter Saller kommentierte das im Sommer in Venedig mit den Worten: »Wenn ich sehe, was in Ungarn passiert, was demnächst vielleicht wieder in den USA passiert, was an so vielen verschiedenen Orten in der Welt passiert. Es ist eine Zeit der Angst, in der wir leben.« Genau deshalb ist dieser Film über die 70er Jahre heute wichtiger denn je und er erzählt eine empowernde Geschichte über Menschen voller Angst, die trotzdem gegen den Faschismus kämpfen.
»Für immer hier«: Brasilien/Frankreich 2024. Regie: Walter Salles. Buch: Murilo Hauser, Heitor Lorega. Mit Fernanda Torres, Selton Mello und Fernanda Montenegro. 135 Min. Start: 13.3.
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