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Was Golßen verliert, wenn »Spreewaldhof« dicht macht

Die Spreewaldgurke ist nicht nur Identität, sondern stellt bei »Spreewaldhof« auch Hunderte Arbeitsplätze – die sind aktuell bedroht

Die Gurken von »Spreewaldhof« dürften bald nicht mehr aus der Region kommen.
Die Gurken von »Spreewaldhof« dürften bald nicht mehr aus der Region kommen.

Wer über den Gurkenradweg nach Golßen radelt, der kommt immer wieder am Symbol der glücklichen Gurke auf dem Fahrrad vorbei. Es zeigt die Spreewaldgurke, die über die Grenzen der Region bekannt ist: Theodor Fontane hat bereits 1870 bei seinen »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« über den internationalen Exportschlager geschrieben, die DDR hat sie zum Kult-Produkt erhoben und spätestens seit »Good Bye, Lenin« ist sie den meisten ein Begriff.

Seit 79 Jahren wird die Spreewaldgurke industriell in Golßen produziert. Der Niederlausitzer Ort liegt im Landkreis Dahme-Spreewald, circa 50 Kilometer südlich von der Berliner Stadtgrenze entfernt. 2447 Menschen lebten 2023 in Golßen – laut den Zahlen des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg ist die Zahl der Einwohner*innen seit dem Ende der DDR nur leicht rückläufig. Mindestens zehn Prozent der Golßener*innen arbeiten im Werk von »Spreewaldhof«, wo die beliebte saure Gurke produziert wird. Doch der französische Mutterkonzern »Andros« gab am 27. Januar bekannt, die Produktion in Golßen aufzugeben. Was das für den Ort bedeutet und wer die Hoffnung nicht aufgibt, zeigt ein Besuch im Spreewald.

In Golßen führt Gurkenradweg auf der Straße der Einheit über Backsteinpflaster zum Marktplatz. Dort befindet sich eine Bushaltestelle. Eine große weiße Friedenstaube ist auf das Glas des Wartehäuschens gedruckt. Neben der Polizeistation und dem Rathaus gibt es am Marktplatz noch ein Café, ein paar Restaurants, ein Blumen- und Kleinwarengeschäft sowie einen Friseursalon.

Für Gerlinde Zühlke sind das wichtige Orte, wie sie im Gespräch mit »nd« sagt. Nicht nur zum Einkaufen oder für sozialen Austausch, sondern weil sie Arbeitsplätze bieten. »Scheiße« findet die Rentnerin die Nachricht, dass 220 Arbeitsplätze in der Stadt künftig wegfallen könnten. Darum hat sie bereits auf Listen im Supermarkt unterschrieben, um sich gegen die Pläne von »Andros« einzusetzen. »Wir haben ja kaum noch Arbeitsplätze«, sagt Zühlke. Ihr Neffe arbeite bei »Spreewaldhof«. Schon zu DDR-Zeiten kannte sie das Gurkenwerk. Damals habe man »ruhiger« gelebt, meint sie. »Jetzt gibt’s nur noch Ellbogengesellschaft«, sagt Zühlke.

In der Berliner Straße, die zum Volkspark Golßen führt, ragen »Gewerbe zu vermieten«-Schilder aus den Schaufenstern. Vergilbte Gardinen und verstaubtes Inventar weisen auf Leerstand hin, von der Sparkasse sind nur noch die Schatten der Buchstaben am Gebäude zu erkennen.

Am Volkspark Golßen liegt der Eingang zum Werk vom »Spreewaldhof«. Vor den Werkstoren gibt es eine Kantine und ein Geschäft mit Produkten der Marke. Es ist Mittagszeit. Viele Beschäftigte sind auf dem Weg zur Pause oder kommen aus der Kantine. Die Frage nach einem Gespräch lehnen Dutzende von ihnen ab. Die meisten sagen, ihr Deutsch sei zu schlecht – ihr Akzent lässt auf eine slawische Muttersprache schließen. Manche verweisen darauf, es eilig zu haben. Der Großteil der Angesprochenen wirkt verunsichert.

Kein Wunder, denn es geht in Golßen gerade um mehr als um die Gurke. Von den 220 Arbeitsplätzen in der Produktion könnten fast alle wegbrechen, ein paar könnten bleiben. Ab 2026 – so eine Sprecherin des Mutterkonzerns »Andros« – werden die zwei »Spreewaldhof«-Standorte »spezialisiert«. In Schöneiche, an der Grenze zu Berlin und weit weg vom Spreewald solle fortan die Produktion laufen, in Golßen hingegen die Logistik. »Von der Umstellung werden circa 220 Arbeitsplätze betroffen sein«, teilt die Sprecherin »nd« mit. Man sei aktuell in Gesprächen mit Betriebsrat und Werksführung. Dieser Schritt sei »notwendig, um auf die geänderte Mengenstruktur zu reagieren, die Produktionskapazitäten den Marktgegebenheiten anzupassen und wieder eine gesunde wirtschaftliche Situation zu erreichen«, teilt die Sprecherin mit.

»Beim Verlust der Arbeitsplätze hätten wir hier eine 15- bis 20-prozentige Arbeitslosenquote.«

Andrea Schulz 
Bürgermeisterin von Golßen

Für Karsten Lukas, Gerit Hoehne und Diana Grafe-Schulz, die allesamt Teil des Betriebsrats sind, klingt das nur bedingt plausibel. Auch bevor der Mutterkonzern die Firma »Spreewaldhof« (eigentlich Obst- und Gemüseverarbeitung »Spreewaldkonserve« Golßen GmbH) im Jahr 2021 übernommen hatte, hätte das Werk nicht nur schwarze Zahlen geschrieben. Das Grundproblem sei für sie politischer Natur: Gestiegene Rohstoff- und Energiekosten erschweren die Konkurrenzfähigkeit am Markt.

Für die drei kam die Nachricht von »Andros« ganz überraschend – genauer gesagt, eine Stunde vor der Betriebsratsversammlung, auf der »Andros« alle Anwesenden darüber aufklärte. »Es war ein Schock«, sagt Grafe-Schulz, die seit 13 Jahren bei »Spreewaldhof« arbeitet. Manche seien in Tränen ausgebrochen. »Eigentlich dachten alle, es geht bergauf«, sagt Hoehne, der seit 18 Jahren im Werk arbeitet. Denn erst kürzlich habe der Betriebsrat eine Vereinbarung ausgehandelt. Ein Jahr habe es dafür gebraucht.

Lukas, der seit fast 30 Jahren bei »Spreewaldhof« arbeitet, will die Flinte nicht ins Korn werfen. Er erzählt von der großen Solidarität, die es bei der »Nacht der 1000 Lichter« in Golßen gab. Die Golßener*innen protestierten mit einem Licht in der Hand für den Erhalt der Arbeitsplätze. Traktoren aus der Nachbarschaft reisten als Unterstützung in den Ort. Am 26. März findet die Fortsetzung, die »Nacht der 2000 Lichter statt«.

Viel mediales Licht scheint derzeit auf die Bürgermeisterin der Stadt – Andrea Schulz. 2024 hat sie sich als Kandidatin für die Unabhängige Bürgerliste Golßen durchgesetzt. Die AfD, die hier in der Heimat ihres Fraktionsvorsitzenden im Landtag, Hans-Christoph Berndt, sonst bei Wahlen stark abschneidet, kam nicht mal in die Stichwahl. Für Schulz habe die Produktion der Spreewaldgurke nur in Golßen Perspektive, wie sie »nd« sagt. Sie sorgt sich, dass mit der Einstellung der Produktion »eine Art Lost Place« in Golßen entstehe. »Bei einem Verlust von 200 Arbeitsplätzen hätten wir hier plötzlich eine 15- bis 20-prozentige Arbeitslosenquote«, sagt sie. Ob die Beschäftigten neue Arbeit fänden, hänge auch davon ab, ob sie zum Beispiel in der Logistik tätig sind oder Lkw fahren. »Aber vor allem bei den Beschäftigten bei der Produktion fehlt die Perspektive für einen neuen Arbeitsplatz«, sagt Schulz.

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Für den Ort spricht die Bürgermeisterin von einem »Identitätsverlust«. Fast alle hier hätten eine Verwandte oder einen Bekannten, der in dem Werk arbeitet. »Meine Oma und Schwiegermutter haben dort schon zu DDR-Zeiten gearbeitet – ich bin aufgewachsen mit dem Duft von Rotkohl, sauren Gurken und Apfelmus«, erzählt sie. Außerdem sei Golßen im Landkreis die fünftreichste Gemeinde. »Wir haben also eine gute Steuerkraft«. Attraktivität und Lebensqualität der Stadt gingen verloren, würde die Produktion in Golßen eingestellt.

Die Bürgermeisterin habe sich bereits an die Landesregierung, den Landkreis und die Wirtschaftsförderungsgesellschaft gewandt. Ein Sprecher des Brandenburger Wirtschaftsministeriums teilt »nd« mit, dass das Ministerium die Pläne von »Andros« bedauere. Wirtschaftsminister Daniel Keller sei gemeinsam mit dem Geschäftsführer der Brandenburger Wirtschaftsförderung, Steffen Kammradt, zu Gesprächen mit der Unternehmensführung vor Ort gewesen. »Es werden jetzt verschiedene Möglichkeiten geprüft, weitere Perspektiven für den Standort und die Mitarbeitenden zu finden«, sagt die Sprecherin.

Mit einer Wirtschaftsförderung oder entsprechender Unterstützung, wie z.B. der Vermietung von Lagerflächen, könnte der Standort Golßen wirtschaftlicher und attraktiver werden, meint Bürgermeisterin Schulz. Eine Entscheidung von »Andros« darüber, ob und wie viele Stellen gerettet würden, erwartet sie für Ende März oder Anfang April. »Ich gebe die Hoffnung nicht auf«, sagt sie.

Die Spreewaldgurke ist ein Symbol für Brandenburg, wo der Tourismus boomt. Laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg verzeichneten die Tourismusbetriebe 2024 mit 5,4 Millionen Gästen und insgesamt 14,4 Millionen Übernachtungen die höchsten Werte seit der Erhebung. Für den Touristen aus fernen Gefilden mag es keinen Unterschied machen, ob die saure Gurke im Spreewald produziert wird oder anderorts. Für die Brandenburger schon und für die Golßener erst recht – schließlich geht es hier nicht nur um Identität, sondern um Existenzen.

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