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Hetzjagd in Berlin-Hohenschönhausen
Am Ostberliner Stadtrand eskaliert die Neonazi-Gewalt gegen eine linksaktive Schulgruppe
Eine Gruppe von 15 Neonazis jagt mehrere Schüler nachts durch die Straßen. Die Jugendlichen können gerade noch fliehen und rufen aus Verzweiflung die Polizei. Als diese endlich kommt, lassen die Einsatzkräfte die vermeintlichen Täter unbehelligt ziehen. Das ist keine Szene aus den sogenannten Baseballschlägerjahren in den 90ern. Der Vorfall ereignete sich am vergangenen Wochenende in Berlin-Hohenschönhausen. Das berichtet Leon, der mit zwei Freunden von dem Angriff betroffen war. Obwohl das Geschehene noch an ihm nagt, will er die rechte Gewalt in seinem Kiez nicht stillschweigend hinnehmen. Leon ist sich sicher, dass die Hetzjagd kein Zufall war. Die Täter seien vorbereitet gewesen, mindestens einer von ihnen mit Quarzsandhandschuhen bewaffnet. Sie hätten in unmittelbarer Nähe der elterlichen Wohnung auf den 16-Jährigen gewartet und ihn dort abgefangen. Der Grund ist für Leon klar: seine politische Aktivität an der Schule.
Begonnen habe sein Engagement vor ungefähr drei Jahren. Da habe er mit Mitschüler*innen beschlossen, sich an seiner Gemeinschaftsschule einzubringen. Anfangs hätten sie versucht, durch Flyer verschiedene Themen im schulischen Alltag sichtbar zu machen und Diskussionen anzustoßen. So unterstützte die Gruppe zum Beispiel Bildungsstreiks der Lehrer*innen. Im Juni 2024 befand sich die beschauliche Schule auf einmal bundesweit in den Schlagzeilen. Bei einem Streit unter zwei Schülern wurde einer von ihnen mit einem Messer verletzt. Leon erinnert sich, dass auch extrem rechte Medien das Ereignis für rassistische Stimmungsmache aufgriffen. Diese Vereinnahmung sei ihm zuwider gewesen. »Wir haben gesagt, dass wir es abstoßend finden, dass irgendwelche Rassisten, die nichts mit unserer Schule zu tun haben, den Vorfall ausschlachten wollen.« Stattdessen wollte seine Gruppe den Austausch unter den Schüler*innen ermöglichen. Vor der Bundestagswahl im Februar organisierten sie eine Vollversammlung. Am Ende stimmten 650 Schüler*innen einen Forderungskatalog ab. Unter anderem sollte eine schulinterne Meldestelle für rechte Vorfälle und Abschiebungen geschaffen werden.
Für ihr Engagement habe es neben viel Zuspruch auch heftige Ablehnung gegeben. Zudem hat sich Leon mit seinem öffentlichen Eintreten für ein solidarisches Schulklima angreifbar gemacht. Auf einmal kannten alle seinen Namen und wussten, wofür er sich einsetzte. Zunächst nur unterschwellige Spannungen seien Ende Februar eskaliert. Anlass war nicht zuletzt der Wahlkampfabschluss der Berliner AfD am 22. Februar in Hohenschönhausen. Leons Schulgruppe unterstützte den Gegenprotest. Zur Veranstaltung der AfD auf dem Prerower Platz kamen auch auffällig junge Menschen.
»Rechte haben Angst, wenn man ihnen das Rekrutierungsfeld wegnimmt. Deshalb gehen sie so massiv gegen uns vor.«
Leon Schüler
Das ist nicht zuletzt das Ergebnis einer Neuausrichtung extrem rechter Politik. Sie spricht zunehmend jugendliche Zielgruppen an und platziert politische Inhalte gezielt in deren Lebenswelten. So startete die Neonazipartei Dritter Weg zwischen Herbst 2023 und Frühjahr 2024 mit ihrer Parteijugend, der Nationalrevolutionären Jugend, eine sogenannte Schulhof-Offensive. Dabei verteilten Gruppen junger Neonazis Flyer vor Berliner und Brandenburger Schulen. Auch die AfD inszeniert sich explizit jugendnah. Björn Höcke und Maximilian Krah zeigen sich auf Mopeds aus DDR-Produktion, um laut eigener Aussage die »Simson-Jungs« anzusprechen. Die Fotos und Videos werden dann in den sozialen Medien geteilt. Zuletzt gründeten sich ganze Netzwerke junger Neonazis auf Plattformen wie Instagram und Tiktok. In Berlin sind etwa Deutsche Jugend Voran und Jung & Stark aktiv. Sie besuchen extrem rechte Demonstrationen im gesamten Bundesgebiet. Auch vor Gewalt schrecken diese neuen Strukturen nicht zurück. Nach mehreren Angriffen auf Personen kam es im Oktober 2024 zu Hausdurchsuchungen bei mutmaßlich beteiligten Neonazis. Am Dienstag wurde bekannt, dass die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage gegen einen 24-Jährigen erhoben hat.
Diese Mischung rechter jugendlicher Lebenswelten traf sich beim AfD-Wahlkampfabschluss in Hohenschönhausen. Unter den anwesenden Jugendlichen waren nach nd-Recherchen auch Mitschüler*innen von Leon. Kurz darauf wurde auf Instagram ein neues Gruppenprofil erstellt. Die Gruppe inszeniert sich als Vertretung der »rechten Jugend« in Hohenschönhausen. Die Online-Aktivitäten dieser neuen Neonazi-Vernetzung konzentrierten sich auffällig auf die Gruppe um Leon. Im Schulumfeld häuften sich Bedrohungen und Einschüchterungsversuche, sagt er. Plakate der Schüler*innengruppe seien abgerissen worden. Zu einem ihrer öffentlichen Treffen seien drei Vermummte erschienen. Dann wurde Leon selbst zum Ziel von Übergriffen. In der Schule und dem umliegenden Kiez wurden Plakate mit seinem Namen, seiner Telefonnummer und einem Foto von ihm geklebt. Darauf findet sich die Aufforderung, sich von dem »Linksradikalen« fernzuhalten. Leons Eltern wiederum beobachteten, wie Unbekannte in der Straße versuchten, das Klingelschild der Wohnung ausfindig zu machen. Kurz darauf bemerkte Leon ein Graffiti von seinem Nachnamen und der Drohung »Verrecke!«.
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In der Nacht vom 7. auf den 8. März fand sich dann eine Gruppe Neonazis unterschiedlicher Altersstufen zusammen – offenbar, um dem Schüler aufgrund seiner politischen Aktivität nachzustellen. Die Polizei sei in dieser Situation keine Hilfe für ihn und seine Freunde gewesen, sagt Leon. Er schildert, wie erst nach knapp zehn Minuten zwei Einsatzkräfte erschienen seien. Zu der Zeit seien noch einige Neonazis dagewesen. Sie seien um die Polizisten herumgeschlichen. »Beim nächsten Mal kriegen wir die Scheißzecken aus eurer Schule«, sagten sie Leon zufolge zueinander. Dennoch nahmen die Polizeibeamt*innen trotz mehrfacher Bitte keine Personalien auf, sagt er. Die Polizei ließ eine Anfrage dazu bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Mittlerweile gibt es zahlreiche Hilfsangebote, nachdem Leon den Vorfall öffentlich gemacht hat. Auch in Hohenschönhausen wollen viele Menschen einer wachsenden rechten Bedrohung nicht tatenlos zusehen. Zugleich versteht Leon die schwierige Situation als Bestätigung seines Engagements: »Rechte wollen an den Schulen Menschen für sich gewinnen. Sie haben Angst, wenn man ihnen dieses Rekrutierungsfeld wegnimmt. Deshalb gehen sie so massiv gegen uns vor.« Aus diesem Grund sei eine linke Basisarbeit an Schulen weiterhin dringend notwendig.
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