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Ritscheratsche!

Ein Jurastudium scheint die perfekte Imitation des Kapitalismus zu sein

Unter Jurastudenten sollte es wenigstens ein guter, lang gereifter Gruyère sein und nicht so ein billiger Emmentaler, der zwischen die Buchseiten gesteckt wird.
Unter Jurastudenten sollte es wenigstens ein guter, lang gereifter Gruyère sein und nicht so ein billiger Emmentaler, der zwischen die Buchseiten gesteckt wird.

Die Idee vom kapitalistischen Wettbewerb, in dem sich angeblich der Leistungsfähigste durchsetzt (wobei die Art der »Leistung« unwichtig zu sein scheint), und das Bestreben, um jeden Preis zu den gesellschaftlichen »Gewinnern« zu zählen (wozu bereits junge Menschen in dieser Gesellschaft erzogen und beständig animiert werden), bringt eine ganz bestimmte Sorte Mensch hervor: die Arschgeige.

Und das ist nicht einfach so eine dahingeworfene haltlose Behauptung. Ich erlaube mir, ein aktuelles Beispiel aus dem echten Leben für diese These anzuführen.

Eine Freundin erzählte mir kürzlich von einer Praxis, die offenbar unter Jurastudenten seit etlichen Jahren üblich ist: Bestimmte Bücher, die im Rahmen einer juristischen Ausbildung besonders wichtig, wenn nicht unverzichtbar sind, fehlen in der Fachbereichsbibliothek von heute auf morgen beziehungsweise sind an dem Standort, an dem sie sich eigentlich befinden sollten, plötzlich unauffindbar, weil ein Student sie versteckt hat. Das heißt: Er hat die Bücher, damit niemand außer ihm selbst Zugriff darauf hat, heimlich von der Stelle, wo sie hingehören, entfernt und an andere Orte gebracht, an denen niemand sie vermutet.

Die gute Kolumne

Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute

Der im Buchhandel immerhin 50 Euro kostende Titel »Examensrepetitorium Zivilrecht« ist dann für andere Studierende nicht mehr ausleihbar. Denn sechs der sieben vorhandenen Ausgaben davon hat irgendwer zum Verschwinden gebracht: Ein Exemplar ist beispielsweise vor zwei Wochen in den Toilettenräumen zufällig in einen Spülwasserkasten gefallen, ein anderes ist kunstvoll hinter einen Heizkörper geklemmt worden. Zwei stehen jetzt in der Germanistik-Bibliothek hinter der leicht eingestaubten historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke Eduard Mörikes, wo sie garantiert niemals jemand finden wird. Und zwei weitere sind leider so unglücklich zwischen zwei Buchreihen gefallen, dass man sie vermutlich erst bei der nächsten Inventur – oder wie immer das Verfahren bei Bibliotheken heißen mag – entdecken wird. Nur das siebte und letzte Exemplar liegt, wie von Geisterhand dorthingezaubert, bei einer ganz bestimmten Person zuhause auf dem Schreibtisch.

Ein weiteres Beispiel gefällig? Stellen Sie sich vor, Sie benötigen einen ganz bestimmten fachwissenschaftlichen Aufsatz, der Ihnen von der Dozentin zur Prüfungsvorbereitung dringend empfohlen worden ist, und von dem Buch, in dem er abgedruckt ist, gibt es in der Bibliothek nur ein einziges Exemplar. Kein Problem! Um des Textes habhaft zu werden, reicht ein einziger beherzter Handgriff: Mit einem einzigen Ruck – Ritscheratsche! Ritscheratsche / Reißt Papier mit viel Geknackse – ist zuverlässig dafür gesorgt, dass der Aufsatz flugs dorthin wandert, wo er hingehört: in die Innentasche Ihres Sakkos.

Andere wichtige Passagen in Büchern können Sie in einer dunklen, nur schwer einsehbaren Ecke der Bibliothek mit einem handelsüblichen Edding-Stift im Handumdrehen schwärzen oder Ihrer Kreativität auf andere Weise freien Lauf lassen: »Ein besonders grotesker Fall der Zerstörung ereignete sich, als eine Studentin Käsescheiben in den Büchern vorgefunden hat, die dazu dienten, die jeweiligen Seiten verrotten zu lassen, sodass der Inhalt unlesbar wird«, so heißt es auf der Internetseite »Talent Rocket«, einer »Karriereplattform« für angehende Juristen, auf der bestimmt noch weitere hilfreiche Tipps zur Förderung der eigenen Karriere zu finden sind.

So lernt man früh die im Kapitalismus unverzichtbaren Überlebenskünste: andere nur als Kombattanten und zu Besiegende betrachten; anderen mit unlauteren Mitteln Nachteile verschaffen; anderen etwas vorenthalten, das man selbst genießt; anderen nichts gönnen.

Zugegeben: Dass ausgerechnet die Tugend der Solidarität unter den traditionell meist sehr konservativen oder politisch gleichgültigen Jurastudenten besonders ausgeprägt ist, hatte man bisher sowieso nicht angenommen.

Das Ziel eines solch niederträchtigen Tuns, wie es oben beschrieben ist, ist jedenfalls der Idee einer Bibliothek vollkommen entgegengesetzt. Und es ist mehr als nur das: Hier zeigt sich das Maß der Verrohung des »Wettbewerbers«, der an nichts anderem interessiert ist als daran, sich um jeden Preis Vorteile zu verschaffen, und des vorgeblichen Leistungserbringers, dessen hauptsächliche Leistung tatsächlich darin besteht, andere zu behindern, zu sabotieren und zu demoralisieren, wo es ihm nur möglich ist. So lernt man früh die im Kapitalismus unverzichtbaren Überlebenskünste: andere nur als Kombattanten und zu Besiegende betrachten; anderen das Leben schwer machen; anderen mit unlauteren Mitteln Nachteile verschaffen; anderen etwas vorenthalten, das man selbst genießt; anderen nichts gönnen; andere verraten und verkaufen; andere nur als dem eigenen Fortkommen dienliches Menschenmaterial betrachten. Es geht darum, zum perfekten Egoisten zu mutieren, das Ausfahren der Ellbogen möglichst schon im Heranwachsendenalter zu perfektionieren, die Bemühungen der vermeintlichen Konkurrenz im Keim zu ersticken.

In den politischen Reklamejargon der rechten und »wirtschaftsliberalen« Parteien übersetzt heißt dieses als wünschenswert geltende Verhalten dann natürlich ganz anders: Leistungsbereitschaft, Wirtschaftskompetenz, Mentalitätswandel, unternehmerisches Engagement, Walten der unsichtbaren Hand des Marktes.

Ich bin mir nicht sicher, ob, um einer besseren Zukunft willen, nicht die Wissenschaft vom Recht und seiner vernünftigen Anwendung anderen Leuten als diesen überlassen werden sollte. Sicher ist jedenfalls: Sich selbst schon als Student zur perfekten, makellosen Arschgeige zu modellieren, scheint unter Jurastudenten ein erstrebenswertes Ziel zu sein.

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