Nur Linkswendung hilft

Der Literaturwissenschaftler Günter Hartung hat Viktor Klemperer neu entdeckt

  • Mario Keßler
  • Lesedauer: 4 Min.
Victor Klemperer (1881-1960)
Victor Klemperer (1881-1960)

Zu den Bildungserlebnissen vieler DDR-Bürger zählte Victor Klemperers Buch »Lingua Tertii Imperii« (Sprache des Dritten Reiches), das ab 1946 in mehreren Auflagen erschien. Eine bundesdeutsche Ausgabe blieb 1966 weitgehend unbeachtet. Der Romanist Klemperer (1881–1960) hatte als protestantisch getaufter Jude den Naziterror in Hitlerdeutschland überlebt. Als Professor für romanische Philologie hatte er 1935 die Technische Universität Dresden verlassen müssen; die Taufe hatte keinen Schutz geboten.

Seine ab 1995 in sechs Bänden erschienenen Tagebücher geben detailliert Auskunft über sein Leben in der Weimarer Republik, das von ihm und seiner nichtjüdischen ersten Frau Eva mitunter kaum noch erwartete Überleben im Nazifaschismus sowie seine Hoffnung auf einen antifaschistischen Neubeginn im Osten Deutschlands, dessen Probleme er gleichwohl erkannte. Klemperers wissenschaftliche Produktivität war natürlich in den Nazijahren unterbrochen, doch sofort nach der Befreiung und der Wiedereinsetzung in seine Professur, die mit Lehrtätigkeiten in Berlin, Greifswald und Halle gekoppelt war, nahm er an der Erziehung einer antifaschistischen Studenten-Generation aktiv Anteil. Seine Ängste und Traumata aber wurden erst durch die Publikation seiner Tagebücher deutlich, mit denen er sich in Deutschland und schließlich fast weltweit als ein Chronist des Überlebenswillens zeigte.

Das Buch von Günter Hartung entdeckt jedoch Klemperer neu, genauer: dessen Erfahrungen im deutschen Kaiserreich vor 1918. Klemperer hatte in notvoller Existenz zwischen 1939 und Februar 1942 seine Erfahrungen in einem umfangreichen, wenngleich unvollendeten Text, »Curriculum Vitae« niedergelegt. Wegen drohender Entdeckung durch die Gestapo brach er die Arbeit daran ab. Aus Zeitmangel konnte er nach 1945 die Arbeit daran nicht wieder aufnehmen. Das in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden von Klemperers zweiter Frau Hadwig deponierte Manuskript übergab der unermüdliche Walter Nowojski, später auch Herausgeber der Klemperer-Tagebücher, bereits 1989 dem Verlag Rötten & Loening. Doch im Strudel der politischen Ereignisse blieb das Buch fast unbeachtet. Mit der Publikation von Klemperers Tagebüchern stieg dann aber auch das Interesse am »Curriculum Vitae«, das der Aufbau-Verlag 1996 in zwei Bänden neu herausgebracht hatte.

Die gespaltene Arbeiterbewegung erwies sich gegenüber dem Nazismus als wehrlos.

Dem Entstehungsprozess dieses autobiografischen Textes hat der 2023 verstorbene Literaturwissenschaftler Günter Hartung, 1953 Student Klemperers in Halle, eine Studie gewidmet, die zwar unvollendet blieb, durch die sorgsame Edition Gerald Dieseners, der bis zur Berentung den Leipziger Universitätsverlag leitete, aber nun zugänglich ist. Sie zeigt Klemperer, den in Landsberg an der Warthe (Gorzów Wielkopolski) geborenen Sohn eines Reformrabbiners, als fast im Wortsinn zwischen den Stühlen sitzend: 1903 war er bei der Heirat mit Eva, die ihm bis zu ihrem Tod treu zur Seite stehen sollte, zum Protestantismus übergetreten. Doch musste er erkennen, dass die nichtjüdischen Deutschen, von Ausnahmen abgesehen, ihre jüdischen Mitbürger keineswegs als ihresgleichen empfanden. Sogar überzeugte Liberale vermochten ihre inneren Vorbehalte nicht zu überwinden. Auch nach der Taufe blieben Juden zumeist nichts anderes als »getaufte Juden«.

Der in der Wertewelt des Kaiserreiches aufgewachsene Victor Klemperer vermochte trotz seines Romanistik-Studiums noch nicht zu erkennen, dass die Emanzipation der Juden in Deutschland nicht wie bei den westlichen Nationen durch eine siegreiche bürgerliche Revolution erkämpft, sondern von den traditionellen Eliten aus taktischen Gründen gnädig gewährt worden war. Alle Versuche der Verdrängung halfen nicht. In der Oberprima erfuhr der junge Klemperer zum ersten Mal den Antisemitismus und fragte sich rückblickend, ob er nicht auf sehr langen Wegstrecken seines Lebens vom Judenproblem gänzlich unberührt geblieben sei. »Nein. Die Wahrheit ist, dass ich von ihm nicht berührt sein wollte, dass ich mir vorschrieb: ›Es existiert nicht für dich.‹ Aber dennoch war es auch für mich immer da.«

Klemperer nahm noch als Gymnasiast insgeheim Fechtunterricht, um dem Klischeebild des unsportlichen Juden zu entkommen – er wusste nicht, dass vor dem Ersten Weltkrieg die Mehrzahl der ungarischen und belgischen Olympiamedaillengewinner im Fechten Juden waren, hatten doch die Fechtsportklubs, vor allem in Budapest, als erste den Juden gleiche Trainings- und Startbedingungen gewährt. Dahingegen sollte er alsbald erfahren, dass auch die Novemberrevolution 1918 es nicht vermochte, die antidemokratischen und antisemitischen Kräfte dauerhaft zu entmachten. Diese konstruierten stattdessen die Legende von der Schuld der Juden an militärischer Niederlage und Revolutionswirren.

Der Nazismus war schließlich die brutalste Form der Selbstverteidigung einer alten, krisengeschüttelten Ordnung und auch die willkommene Gelegenheit, die als lästig für die eigenen Weltherrschaftsambitionen empfundenen demokratischen Spielregeln der ersten deutschen Republik zu beseitigen. Die gespaltene Arbeiterbewegung erwies sich gegenüber dem Nazismus als wehrlos. Den Feinden der Juden und des Sozialismus gelang es, die Arbeiterbewegung zu zerschlagen und Millionen von Juden zu ermorden. Klemperers Konsequenz war noch im Dezember 1945 der Beitritt zur KPD. »Nur durch eine entschiedene Linkswendung« sei es möglich, »aus dem gegenwärtigen Elend« hinauszugelangen, und die Bereitschaft zum Bruch mit der alten Ordnung sehe er »nur bei der KPD«. Die DDR bot ihm Sicherheit und Anerkennung, bereitete ihm aber neue Enttäuschungen, die jedoch in keiner Weise vergleichbar waren mit dem, was er durchgemacht hatte. Seine Entscheidung für den ostdeutschen Staat nahm er nie zurück.

Günter Hartung: Victor Klemperer (1881–1960). Unnachgiebiger Nazi-Gegner, rationaler Aufklärer und humaner Pädagoge. Leipziger Universitätsverlag, 142 S., geb., 24 €.

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