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»Adolescence«: Packt dich am Kragen
Der Vierteiler »Adolescence« bricht Zuschauerrekorde, und das ist gut so
Zwei Dinge sind es, die derzeit Anlass zur Hoffnung geben. Zunächst der Umstand, dass der viel zitierte Bürger kollektiv seine Mündigkeit beweist und die Tesla-Aktie von Elon Musk in die Knie gezwungen hat. Zum Zweiten ist es der enorme Erfolg des britischen Sozialthrillers »Adolescence«, eine Serie, die vor allem anderen von Empathie getragen ist. Einer menschlichen Ressource also, die nicht nur immer knapper wird, sondern die durch den oben genannten Autohändler aktiv bekämpft wird, weil sie angeblich den Untergang des Abendlandes besiegele.
Über 66 Millionen Menschen weltweit haben sich auf Netflix den britischen Vierteiler um den Mord an einer Schülerin durch einen 13-jährigen Jungen angeschaut. Es ist damit die erfolgreichste Miniserie des Streamingportals, das zuletzt seine mit reichlich Slow Burn und anderweitig in die Länge gezogenen Produktionen Kunden zur Konkurrenz getrieben hatte. Auch in »Adolescence« nimmt sich die Erzählung Zeit, nutzt sie aber für Dramaturgie, Schauspielkunst und seelische Tiefe.
»Adolescence« packt ab der ersten Sekunde unsere Aufmerksamkeit an dem Kragen, an den sich auch die Kamera im Nacken des Polizeibeamten zu Beginn der ersten Folge krallt. Von dort löst sie sich, fährt über seine Schulter und ist mittendrin, als ein bewaffneter Polizeitrupp frühmorgens die Tür eines Reihenhauses in einer britischen Kleinstadt mit dem Rammbock aufbricht. Wir stürmen mit durch das kleine Haus und sehen bruchteilhaft das Entsetzen der Mutter im Bademantel, die gerade das Frühstück macht, sehen, wie die Schwester sich in den Rahmen des Badezimmers kauert, wie der überrumpelte Vater um Rücksicht bittet und schließlich, wie der aus dem Schlaf gerissene 13-jährige Jamie Miller, ein schmächtiges Jüngelchen, sich vor Schreck in die Schlafanzughose pullert. Jamie wird verhaftet, sein Vater darf ihn begleiten. Im Bett zurück bleibt Jamies Teddybär.
Warum bringen Jungs Mädchen um? Woher rührt diese Wut? Antworten gibt die Serie nicht.
Jede der vier einstündigen Folgen ist in einem Kameratake gedreht worden, was für erstaunliche Effekte sorgt; wie Staffelläufer lösen sich die Schauspieler in den Szenenwechseln ab. Stephen Graham, Darsteller des Vaters, der mit dem britischen Autor Jack Thorne (Miniserie »This is England ’86«) das Drehbuch geschrieben hat, kennt sich damit aus. In »Yes, Chef!« (im Original »Boiling Point«) spielte er 2021 – ebenfalls in einem Rutsch – einen Küchenchef. Wie in »Adolescence« führte Philip Barantini die Regie, die drei sind ein eingespieltes Team. Auch spielte Graham in »This is England ’86« den üblen Skinhead Combo. Der untersetzte, muskelbepackte Schauspieler ist für die Rolle des Mannes, der stets am Rande des nächsten Wutausbruchs vor sich hinbrodelt, wie geschaffen. In »Adolescence« aber glänzt er noch dazu als überragender Charakterdarsteller.
Denn es wird richtig hart für Jamies Vater, der seinen Jungen vor der Aufnahmeprozedur auf der Wache beschützen will. Er ahnt nicht, dass der Junge im Internet schon lange viel Schlimmerem ausgesetzt war: nämlich Online-Mobbing und der toxischen Männlichkeit der sogenannten Incel-Subkultur, in der Influencer des Frauenhasses wie Andrew Tate Zigtausende junge Männer tagtäglich gegen Mädchen aufhetzen.
Bei der Vernehmung wird schnell klar: Jamie ist der Täter und hat seine Klassenkameradin brutal erstochen. Dennoch leugnet der weinende Junge die Tat. Es ist eine der vielen herzergreifenden stillen Szenen, die von kleinen Gesten leben und aus der die Protagonisten nicht entfliehen können. Sie müssen einen Weg zueinander finden. Der Vater, bedrückt von eigenen Dämonen, ist bei aller Abscheu vor der Tat dazu verdammt, dem Sohn zu verzeihen, während der nur noch ein stummer Schrei nach Liebe ist.
Eine Sensation dieser Serie ist der 14-jährige Owen Cooper, Darsteller von Jamie. Es ist sein Schauspieldebüt, der Junge hat zuvor noch nie an einem Filmset gestanden. Geschweige denn an einem Set mit mehreren Kameras, der Technik eines One-Take-Drehs und einem entsprechend komplexen Ablaufplan. Ursprünglich geplant war, nach ausgiebiger Probezeit jede der vier Folgen zehnmal zu drehen. Was nicht zu halten war. Ein einziger Versprecher, und die ganze Kompanie konnte von vorne anfangen.
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Da der Täter schnell feststeht, ist »Adolescence« als Thriller also kein klassischer Whodunnit, sondern ein Whydunnit: Warum bringen Jungs Mädchen um? Woher rührt die Wut, die den 13-Jährigen siebenmal zustechen ließ? Antworten darauf gibt die Serie nicht, sie wirft aber die richtigen Fragen auf. Stephen Graham erzählte dazu einem britischen Magazin, seit Jahren falle ihm der Anstieg geschlechtsspezifischer Gewalt unter Jugendlichen auf, lange vor Southport. In der nordenglischen Kleinstadt hatte ein 17-jähriger drei Mädchen erstochen, der Junge war schwarz, es kam zu tagelangen rassistischen Krawallen. Der Erfolg von »Adolescence« in ihrer sensiblen Suche nach Ursachen rief dann auch sofort die rechtsextreme Troll-Armee bei X auf den Plan, die mit ihrem dussligen Kulturkampf stets nur in die Irre führt. Dieses Mal führten sie aus, die Serie habe im Vergleich mit der Realität die Hautfarben ausgetauscht, »Rassismus gegen Weiße« sei das, der zustimmende Repost durch Musk erfolgte prompt.
Doch auch hier zeigt sich der mündige Bürger klüger als sein Ruf. Denn die Leute tauschen sich über die Serie in den sozialen Medien aus; man spürt, sie haben Sprechbedarf, über elterliche Rollenvorbilder, aber auch über die ihnen unbekannte Parallelwelt im Netz, die sich auf ihre Kinder stürzt, sobald die die Tür hinter sich schließen. Manche wünschen sich eine zweite Staffel, in der die Rolle des Mädchens im Zentrum steht. Und als ob ein Wunder geschehen ist, sind diese Unterhaltungen anders als sonst in den sozialen Medien von Respekt und Neugier geprägt, von einer freundlichen Sprache und von der Abwesenheit des ewigen Hasses, der ja nicht nur für Heranwachsende pädagogisch völlig wertlos ist.
Netflix 2025, Regie: Philip Barantini. Mit Stephen Graham, Owen Cooper, Erin Doherty, Christine Tremarco u. a.
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