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- Pro-palästinensische Proteste
Berlin: »Gefährlicher Präzedenzfall« bei Aktivisten-Ausweisung
300 Menschen demonstrieren gegen geplante Abschiebung von vier Aktivisten – Opposition zweifelt an, dass das Verfahren rechtsstaatlich war
»Wir sehen das als gefährlichen Präzedenzfall«, sagt Anna* zu »nd«. Anna ist Teil des »Irish Bloc«, einer Gruppe irischer Aktivist*innen aus Berlin. Der Irish Bloc hat am Montagmorgen zusammen mit zahlreichen anderen propalästinensischen Organisationen zu einer Kundgebung aufgerufen. Der Präzedenzfall, von dem die Aktivist*in spricht: Vergangene Woche wurde öffentlich, dass das Land Berlin beabsichtigt, vier propalästinensische Aktivist*innen auszuweisen.
Für Aufsehen gesorgt hatte der Vorgang aus verschiedenen Gründen. Vor allem, dass den vier Aktivist*innen zwar strafrechtliche Vorwürfe im Rahmen von propalästinensischen Protestaktionen gemacht werden, allerdings keine*r von ihnen strafrechtlich verurteilt wurde, sorgt für Empörung. Dass die Innenverwaltung sogar die intern ihr gegenüber angemeldeten Bedenken der Berliner Ausländerbehörde (LEA) gegen die Ausweisungspläne überging, befeuert die Annahme, die Ausweisungen könnten politisch motiviert sein. Zur Rechtfertigung der Ausweisungen wird in drei Bescheiden herangezogen, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei. Auch dass drei der Aktivist*innen EU-Bürger*innen sind, die eigentlich Freizügigkeitsrecht genießen, sorgt für Unmut. Denn die Hürden für den Entzug dieser Freizügigkeit sind eigentlich sehr hoch.
Für die Aktivist*innen auf der Demonstration stehen die Ausweisungen im Kontext von Repression gegen propalästinensische Demonstrationen. »Ich kenne viele Menschen, die entsetzt sind über den Völkermord in Palästina und die Unterstützung Deutschlands dafür, aber zu viel Angst haben, sich öffentlich dagegen zu stellen«, sagt Anna. Sie ist sich sicher, dass mehr Menschen auf der Straße wären und protestieren würden, wenn sie keine Angst vor Polizeigewalt oder dem Verlust ihres Aufenthaltsstatus hätten.
Eigentlich hätte die Kundgebung direkt vor dem Abgeordnetenhaus stattfinden sollen. Das wurde allerdings von der Versammlungsbehörde untersagt. Deswegen haben sich die zwischenzeitlich gut 300 Demonstrierenden auf der Stresemannstraße, in Sichtweite des Abgeordnetenhauses, versammelt. Dutzende Redebeiträge werden gehalten, die sich mit den Ausweisungen, der Situation in Gaza und der Westbank und der Repression gegen die propalästinensische Bewegung in Deutschland befassen. Bewacht werden sie von zahlreichen Polizeibeamt*innen.
Auch im zeitgleich mit der Kundgebung tagenden Innenausschuss des Abgeordnetenhauses geht es um die beabsichtigten Ausweisungen. Großen Raum nimmt dabei der Moment ein, der die vier Aktivist*innen verbindet: eine versuchte Besetzung der Freien Universität am 17. Oktober 2024. »Es drang eine Gruppe von circa 20 bis 40 Personen in das Gebäude der Freien Universität ein. Ausweislich des polizeilichen Berichts waren diese gewaltbereit und vermummt«, sagt Staatssekretär Christian Hochgrebe (SPD) stellvertretend für den Senat. Die Gruppe sei außerdem mit Äxten, Kuhfüßen und Brecheisen bewaffnet gewesen, zwei Server seien zerstört, außerdem Graffiti gesprüht worden. Beschäftigte seien in Angst und Schrecken versetzt worden, als versucht worden sei, Türen aufzubrechen. Gegen vier ausländische Staatsangehörige seien im Zusammenhang mit diesen Vorfällen aufenthaltsbeendende Bescheide erlassen worden.
»Es geht nicht nur um diese vier Menschen. Das ist ein Signal an die gesamte Protestbewegung für Palästina.«
Anna Irish Bloc
Es sei unstrittig, dass Gewalt im Rahmen von Hochschulbesetzungen falsch und nicht hinnehmbar sei, sagt der innenpolitische Sprecher der Grünenfraktion, Vasili Franco. »Dafür gibt es eigentlich das Strafrecht.« Franco sagt auch, es lasse Zweifel an einem rechtsstaatlichen Verfahren aufkommen, wenn die Innenverwaltung entgegen der rechtlichen Auffassung des LEA entschieden haben sollte. Auch an der Entscheidung, die Kundgebung nicht direkt vor dem Abgeordnetenhaus zuzulassen, übt der Innenpolitiker Kritik. »Man muss sich nicht auf die Seite der Protestierenden stellen«, so Franco. Aber den Protest vor dem Haus zuzulassen, wäre für ihn als Demokraten eine Selbstverständlichkeit gewesen.
»Natürlich sind bei dieser Besetzung Straftaten begangen worden und Dinge passiert, die nicht hinnehmbar sind, das stellt hier niemand in Frage«, sagt auch Linke-Innenpolitiker Niklas Schrader. Aber die konkrete Tatbeteiligung der Menschen, die ausgewiesen werden sollen, stehe noch gar nicht fest. Er fragt, warum man das nicht abwarte.
Staatssekretär Hochgrebe will keine Zweifel daran aufkommen lassen, dass es sich aus Sicht der Verwaltung um »ein komplett rechtsstaatliches, ein komplett geordnetes Verfahren« handelt. Bei den Maßnahmen handle es sich um Einzelfallentscheidungen. Anders als im Strafrecht gelte im Verwaltungsrecht, um das es bei den Bescheiden geht, keine Unschuldsvermutung. »Das Vorliegen strafrechtlicher Verurteilungen ist keine Tatbestandsvoraussetzung«, erklärt er. Nach sorgfältiger Abwägung sei man zum Schluss gekommen, dass von den vier Betroffenen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehe. Zur Begründung macht Hochgrebe dennoch einen strafrechtlichen Exkurs: Die versuchte Besetzung sei »bandenmäßig« begangen worden. Da komme es dann nicht darauf an, was der Einzelne gemacht habe, sondern darauf, was die Gruppe getan hat. »Insofern kann das hier zugerechnet werden.«
Auf der Kundgebung sieht man die beabsichtigten Ausweisungen nicht als Einzelfälle. Die deutsche Regierung versuche, systematisch jede Art von Protest gegen die Kriegsverbrechen der israelischen Regierung zu verbieten, sagt Irish-Bloc-Aktivist*in Anna. »Es geht nicht nur um diese vier Menschen. Das ist ein Signal an die gesamte Protestbewegung für Palästina.« Und ergänzt: »Und an alle anderen Protestbewegungen: dass niemand sicher ist. Dass jeder abgeschoben werden kann, der nicht die deutsche Staatsbürgerschaft hat.« Aber daran, dass trotz Repression und Polizeigewalt weiter Proteste stattfinden, sehe man, dass das Thema Leute sehr bewege und sich der Protest nicht einfachen unterkriegen lassen werde.
*Name redaktionell geändert
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