Rote Hilfe: Herz für Notleidende

Vor 100 Jahren wurde in Elgersburg ein Kinderheim der Roten Hilfe gegründet

  • Holger Hänsgen
  • Lesedauer: 5 Min.
Das ehemalige Kinderheim der Internationalen Roten Hilfe in Elgersburg
Das ehemalige Kinderheim der Internationalen Roten Hilfe in Elgersburg

Meschdunarodnaja Organisazija Pomoschi Borzam Revoljuzij – das heißt wörtlich übersetzt: Internationale Hilfsorganisation für die Kämpfer der Revolution, abgekürzt MOPR. Die Internationale Rote Hilfe (IRH), so die gängige Bezeichnung im Deutschen, wurde 1922 in Moskau auf Initiative der Kommunistischen Internationale gegründet. Bereits zwei Jahre später gab es 19 nationale Ableger in Europa sowie in den USA und Mexiko.

Im Herbst 1924 beschloss das Zentralkomitee der IRH, deren vornehmliches Ziel die Unterstützung politischer Gefangener war, ein Kinderheim einzurichten, möglichst in Deutschland. Dieses sollte sich »in idyllischer Lage« befinden, damit (vor allem) Arbeiterkinder »wirkliche Erholung in freier Natur finden können«. Nach dem Barkenhoff im niedersächsischen Worpswede bei Bremen wurde man auch im thüringischen Elgersburg fündig. Der Ort hatte damals 1400 Einwohner*innen, davon waren 350 Mitglieder der KPD. Im Gemeinderat hatte die Partei eine sichere Mehrheit. Insbesondere der KPD-Gemeinderat Karl Hager und Bürgermeister Albrecht Müller trieben das Projekt »Kinderheim« zügig voran.

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Mitglieder der thüringischen Landesregierung versuchten vergeblich, den Kauf von Haus und Grundstück zu verhindern. Am 7. Februar 1925 konnte die oberhalb Elgersburgs, am Ortsausgang gelegene »Villa Bauer«, benannt nach ihrem ersten Besitzer, erworben werden. Binnen weniger Wochen und mit großartiger Unterstützung von Einwohner*innen aus Elgersburg und Umgebung erfolgte der Umbau der Villa. Bereits Anfang April reisten die ersten rund 30 Schützlinge an.

Trotz massiver Versuche der Landesregierung, die feierliche Eröffnung zu verbieten, strömten am 12. April 1925, Ostersonntag, »erhebliche Menschenmengen« nach Elgersburg, wie es in einem zeitgenössischen Bericht heißt. Aus Geraberg kommend, führte das Musikkorps der Arbeiterturnvereine und des Roten Frontkämpferbundes (RFB) den Zug von fast 3000 Menschen an. Aus Berlin war Wilhelm Pieck angereist, Abgeordneter des Preußischen Landtags. Gleich ihm hielten der Generalsekretär der Roten Hilfe Deutschlands, Jakob Schloer, sowie ein schwedischer Vertreter der IRH leidenschaftliche Eröffnungsreden.

Unterhalten wurde das sogenannte MOPR-Heim, wie es unter Linken genannt wurde, durch Spenden und durch viele freiwillige Helferinnen und Helfer aus Elgersburg und ganz Deutschland. Die zum Teil unterernährten und verwahrlosten Kinder wurden pädagogisch und medizinisch betreut, erhielten – manche von ihnen erstmals in ihrem Leben – regelmäßig Essen, Kleidung, ärztliche Betreuung und Unterricht, sowie viel Freizeit. Das Programm wurde gemeinsam mit den Kindern beraten.

Dem ersten Durchgang von rund zehn Wochen folgten weitere. Rund 200 Kinder waren es bis zum Sommer 1926. Der Andrang war groß, sodass bereits im April 1926 ein Erweiterungsbau mit Baderäumen, Spielzimmern und Tagungsraum folgte. Ab dem folgenden Jahr erholten sich auch österreichische und bulgarische Kinder hier. Zu den Überstützern des Projekts gehörten Clara Zetkin als Vorsitzende der IRH, Albert Einstein, Kurt Tucholsky, Gustaf Gründgens und Heinrich Zille.

Die politischen und finanziellen Möglichkeiten gestalteten sich jedoch ab 1927, verstärkt durch die Weltwirtschaftskrise. Die Zahl der Kinder, die das Heim nutzen konnten, ging zurück. Daher wurde es zunehmend für Schulungs- und Bildungszwecke der Thüringer KPD genutzt. Die Landesregierung nahm das 1931 zum Anlass, die Erlaubnis zur Aufnahme von Kindern zu widerrufen. Dagegen setzte sich die Rote Hilfe vor Gericht erfolgreich zur Wehr. Schluss war dann allerdings mit dem Machtantritt der Nazis 1933. Haus und Einrichtung wurden beschlagnahmt. Das Thüringer Innenministerium überließ das Gebäude der Hitlerjugend zur »freien Benutzung«; fortan wurde es als »HJ-Führerschule« missbraucht. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Immobilie der Kriegsmarine übergeben und für »Marinekinder« genutzt.

Nach Kriegsende übernahm zunächst die Volkssolidarität das Haus. Wiederum waren es Hager und Schloer, die sich für die (Wieder-)Eröffnung als Kindererholungs-, aber auch Bildungsheim einsetzten. Mit Erfolg: In das wieder MOPR-Heim genannte Haus kamen ab Mitte 1946 vor allem Kinder berufstätiger Mütter, deren Väter gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft waren, sowie Umsiedlerkinder. Bald darauf wurden hier über längere Zeiträume auch Kinder betreut, deren Eltern oder alleinerziehende Mütter sich beruflich im In- oder Ausland qualifizierten.

Arbeiterkinder sollten in freier Natur »wirkliche Erholung« finden.

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1949 übernahm die Landesleitung der SED das Haus, 1952 die SED-Bezirksleitung Suhl. Diese beschloss drei Jahre später, als die Zahl der zu betreuenden Kinder abnahm, das Haus zu einem zentralen Erholungsheim für SED-Funktionäre zu machen, später auch für Kader »befreundeter Parteien«. Gerüchte über extraordinären Luxus kursierten. In der Wendezeit 1989 konnte sich jeder, der interessiert war, selbst davon überzeugen, dass dies nicht stimmte.

Im Juni 1990 kam das Haus, nun Schulungsheim und öffentliches Hotel, unter treuhänderische Aufsicht der sogenannten Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR. Diese strich zwar alle Erlöse aus Vermietung und Verpachtung ein, steckte aber keine Mark in die dringend notwendige Instandhaltung und Pflege der Immobilie. 1995 kam es zu einem »Vergleich« zwischen der PDS und der Bundesanstalt für »Vereinigungsbedingte Sonderausgaben«. Das Haus wurde als eine von nur vier der bisherigen rund 1800 der SED gehörenden oder von ihr verwalteten Immobilien an die PDS als »einwandfrei rechtsstaatlich erworben« übertragen. In deren Auftrag verwaltet die im November 1991 gegründete Vulkan Gesellschaft für Grundbesitz mbH das Haus, dessen Verfall des Hauses inzwischen weit fortgeschritten war. Nach aufwendigen Restaurierungs- und Erweiterungsmaßnahmen erfolgte 1998 die Neueröffnung des Hauses als »Hotel Am Wald«. An die wechselvolle Geschichte des Hauses, in dem vor genau 100 Jahren der spätere DDR-Präsident Wilhelm Pieck ein Kinderheim der Roten Hilfe eröffnet hatte, erinnert dort seit 2009 eine liebevoll eingerichtete Ausstellung.

Weiterführende Lektüre: Gerd Kaiser, »Heim in idyllischer Lage« (Dietz-Verlag, 2010)

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