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- Konferenz »Academia Under Attack«
Bildung im Gaza-Krieg: Kaum Unterricht, dafür »Scholastizid«
Eine Konferenz in Hamburg berichtet über Bildung und Wissenschaft unter israelischen Bomben
Die Internetverbindung hält: Auf der Leinwand in der Universität Hamburg ist am Samstagmorgen das Bild einer jungen Frau zu sehen. Sie sitzt in einem kleinen Raum mit türkisfarbener Wand, hinter ihr zieht sich ein tiefer, langer Riss durch das Mauerwerk. Nur wenig Licht fällt durch das Fenster. »Ich bin Lehrerin. Ich unterrichte Kinder hier in Gaza«, sagt Asma Mustafa, die derzeit in Dschabaliya im Norden des Gazastreifens lebt.
»Drei Monate war ich in Rafah, dann drei Monate in Deir al-Balah, danach drei Monate in Khan Younis« – überall sei sie vertrieben worden, berichtet Mustafa. »Es fühlt sich an, als wäre ich mein ganzes Leben lang auf der Flucht. Die letzten anderthalb Jahre sind alles, an das ich mich wirklich erinnern kann.« Mustafa wirkt etwa 30 Jahre alt.
Die junge Frau war über Zoom zur Konferenz »Academia Under Attack« zugeschaltet. Im Eröffnungspanel wurde die israelische Zerstörung der Bildungsinfrastruktur in Gaza thematisiert. Laut aktuellen Daten, die der Wissenschaftler Yusuf Sayed von der Universität Cambridge vorstellte, wurden seit Beginn der Kämpfe am 8. Oktober 2023 rund 92 Prozent der Bildungsinfrastruktur beschädigt, 85 Prozent sogar vollständig zerstört.
Laut UN-Angaben wurden seit Oktober 2023 rund 17 000 Kinder durch israelische Angriffe getötet. Neben Hunger sei das größte Problem der palästinensischen Jugend die Bildungsarmut. Im Gazastreifen leben 625 000 Schüler*innen und 22 564 Lehrer*innen, berichtet Sayed: »Alle sind vom Krieg betroffen.« Eine ganze Generation laufe Gefahr, ihre Bildung vollständig zu verlieren: »Zuerst COVID, nun der Krieg«. Hinzu kommen kriegsbedingte Behinderungen: »Laut unseren Daten verlieren zehn Kinder pro Tag ein oder mehrere Gliedmaßen«, so Sayed.
»Die Kinder in Gaza erfahren unvorstellbares Elend – und bleiben dennoch positiv«, berichtet der Forscher. Lehrerinnen wie Asma Mustafa versuchen, diese Hoffnung zu stützen: »Wir sind die starke Stimme, um unser Recht auf Bildung zu verteidigen. Wir sind die Stimme der Feder!« Sie spricht schnell, in perfektem Englisch; die Übersetzer*innen im Hamburger Hörsaal kommen kaum hinterher. »Ich kann versuchen, langsamer zu sprechen, aber ich weiß nicht, wie lange ich bei euch sein kann«, sagt sie. Nicht, weil sie ungeduldig wäre: »Ich kann euch stundenlang erzählen – aber es geht um den Strom.«
Trotz des Krieges, der anhaltenden Bombardierung und ständiger Flucht versucht Mustafa, weiterhin Kinder zu unterrichten. Systematisch gehe dies längst nicht mehr. Wo immer sie sich gerade befinde, stelle sie deshalb Klassen zusammen: »Das ist alles, was ich brauche« – sie hält eine kleine, etwa einen Meter lange grüne Kreidetafel in die Kamera. Sie ist zerbeult, uneben, in der Mitte ein Sprung, der Metallrahmen fast vollständig abgefallen. »Aber das macht nichts, ich kann sie immer noch benutzen. Es ist das einzige Ding, das ich bei jeder Flucht mitnehme.«
Sie spricht klar und gefasst – doch ihre Stimme drückt Trauer aus. Sie wisse nie, welche ihrer Schüler*innen sie je wiedersehen werde. »Iman war meine Schülerin. Sie verkaufte Brot und war nur neun Jahre alt. Sie wurde vor meinen Augen ermordet«, erzählt Mustafa. »Ich werde sie nie vergessen.« Das Kind habe sie auf der Straße angesprochen und ihr ein Stück Brot angeboten: »Es war köstlich, Iman hatte immer das beste Brot.« Mustafa ging weiter – und hörte plötzlich einen Knall. Nur wenige Augenblicke, nachdem sie sich verabschiedet hatte, fiel eine Bombe auf das Mädchen: »Das Blut floss über ihr Brot. Ich kann sie nicht vergessen. Ich bitte euch: Erzählt von Iman.«
»Die Solidarität mit Palästina erinnert an den Beginn der Studentenbewegung in den 1960er Jahren.«
Golnar Sepehrnia Mitveranstalterin der Konferenz »Academia Under Attack«
Die zweitägige Konferenz »Academia Under Attack« wurde vom Referat für internationale Studierende gemeinsam mit mehreren palästinasolidarischen Organisationen veranstaltet. Michael Barenboim, Konzertmeister und Mitglied der Association of Palestinian and Jewish Academics, umriss den Anlass: die Zerstörung der Universitäten in Gaza, die Einschränkung demokratischer Debatten an Hochschulen weltweit – und die drohende Militarisierung deutscher Universitäten durch eine mögliche Abschaffung von Zivilklauseln.
Das Interesse an der Konferenz war groß: Binnen kurzer Zeit waren alle 300 Plätze vergeben, über 150 Menschen standen auf der Warteliste, berichtet eine Organisatorin bei der Registrierung. Es habe sogar vorsorglich einen Ausweichort gegeben. Anders als beim Palästina-Kongress in Berlin ein Jahr zuvor, der von der Polizei aufgelöst wurde, blieb es in Hamburg ruhig – keine Polizei, keine Gegendemonstrationen.
Mit der Konferenz zum Thema Bildung und Wissenschaft wollten die Veranstaltenden einen Beitrag zur Beendigung des Gaza-Krieges leisten, erklärte Golnar Sepehrnia, eine der Organisatorinnen, in ihrer Eröffnungsrede. Doch es gehe nicht nur um den »Scholastizid« – so wird die systematische Zerstörung der Hochschulinfrastruktur in einem UN-Bericht vom 18. April 2024 genannt – in Palästina. »Universitäten stehen überall im Zeichen reaktionärer Angriffe«, auch in Deutschland. Sepehrnia kritisierte die chronische Unterfinanzierung der deutschen Hochschulen, die Verdrängung kritischer Wissenschaften – etwa Arbeitsrecht oder Geisteswissenschaften – durch marktkonforme Lehre und Forschung. 70 Prozent der Studierenden in Deutschland lebten in Armut, betont sie.
Trotzdem blickt sie mit Hoffnung nach vorn. Der weltweite Kampf der Bevölkerung um Befreiung sei nicht aufzuhalten: »Die Solidarität mit Palästina erinnert an den Beginn der Studentenbewegung in den 1960er Jahren. Damals verbündete sich die Bewegung mit dem Protest gegen den Vietnamkrieg und mit US-amerikanischen GIs, die hier desertierten«, erinnert Sepehrnia.
»Wir studieren nicht, um für Militarisierung und Rüstung zu forschen«, sagt auch John Lütten vom Organisationskomitee. »Die Solidarität mit Palästina hat uns zusammengebracht.« Doch darüber hinaus wolle man Impulse gegen die gegenwärtige Kriegsgefahr setzen. Ziel sei es, Hochschulen wieder zu Orten der Friedensforschung und kritischen Lehre zu machen.
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