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Pushbacks: »Klage wird Reedern und Kapitänen die Augen öffnen«
Eine italienische Organisation bringt Verantwortliche für Pushbacks nach Libyen vor Gericht und ist dabei erfolgreich
Signora Fratini, das Zivilgericht in Rom hat bestätigt, dass Italien eine zentrale Rolle bei sogenannten delegierten Zurückweisungen nach Libyen spielt. Worum geht es dabei?
Das Gericht hat Italien eine verdeckte Regie bei der Zurückweisung eines von uns »Adam« genannten sudanesischen Geflüchteten nach Libyen attestiert. Es hat eine einstweilige Verfügung erlassen, mit der die Regierung in Rom angewiesen wurde, Adam umgehend ein Visum auszustellen, damit er nach Italien kommen und sich auf diese Weise vor den Gefahren in Libyen – dem Land, in das er illegal zurückgewiesen wurde – retten kann. Hintergrund ist ein gemeinsamer Pushback vom 14. Juni 2021, den libysche Milizionäre und das Frachtschiff »Vos Triton« durchgeführt hatten, das unter der Flagge von Gibraltar fuhr.
Warum wurde Italien in diesem Fall verurteilt, obwohl die Zurückweisungen von einem Handelsschiff und der libyschen Küstenwache durchgeführt wurden und nicht von der italienischen Marine oder Grenzpolizei?
Weil Italien mithilfe seiner Seenotleitstelle ein Verbrechen unterstützt hat. Es war mindestens ein Komplize. Italien hat den Libyern die Koordinaten von Adams Boot übermittelt und den Pushback nach Libyen nicht verhindert – eine Zurückweisung, die in Italien strafbar ist.
Und was bedeutet das Urteil für den betroffenen Geflüchteten?
In der ersten Phase des Verfahrens war Adam noch in Libyen. Mit der gerichtlichen Anordnung konnte er ein Flugzeug nehmen und nach Rom kommen. Jetzt kann er sein Verfahren verfolgen. Inzwischen beantragt er politisches Asyl in Italien. Da er aus dem Sudan stammt, einem Land im Krieg, hat er ein Anrecht darauf.
Sarita Fratini hat das Josi & Loni Project (JLProject) gegründet, es ist nach zwei Opfern illegaler Pushbacks nach Libyen benannt. Als Schriftstellerin beschäftigt sie sich mit Menschenrechtsthemen und weltweiter Ungerechtigkeit.
Das Gericht hat in seiner Begründung eine »qualifizierte Beziehung« zwischen Italien und den zurückgewiesenen Migranten anerkannt. Was bedeutet das?
Der Richter sah Italien als verantwortlich für die Zurückweisung von Adam und den anderen, die mit ihm auf dem Boot gereist waren. Das erlaubt es den Geschädigten, diese und weitere Klagen gegen die italienische Regierung einzureichen – zum Beispiel eine Schadenersatzklage.
Hat Adam nun die Möglichkeit, dauerhaft in Italien zu bleiben?
Wenn er politisches Asyl erhält, kann Adam in Italien ein neues Leben beginnen, studieren oder arbeiten. Derzeit besucht er bereits einen Italienischkurs.
Auch andere Überlebende des Vorfalls mit der »Vos Triton« haben rechtliche Schritte eingeleitet.
Ja, diese Klagen sind noch anhängig. In anderen Fällen haben die Betroffenen aber auch schon gewonnen.
Gab es Präzendenzfälle für das jetzige Urteil?
Im Fall von Adam bezog sich der Richter ausdrücklich auf das Urteil »Asso Ventinove«, bei dem ein italienisch flaggiertes Privatschiff beteiligt war. Das Gericht entschied, dass italienische Behörden für die sichere Anlandung von Schiffbrüchigen sorgen müssen. Italien hätte seine seepolizeilichen Befugnisse nutzen müssen, um die Verbringung der Migranten nach Italien statt nach Libyen anzuordnen, trotz libyscher Anweisungen. Im Fall Hirsi – den das Gericht aber nicht ausdrücklich erwähnte – urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Rückführung von Asylsuchenden nach Libyen durch italienische Kriegsschiffe gegen das Folterverbot verstieß, da Libyen keine Menschenrechtsgarantien bot. Der Fall Orione betraf 89 Eritreer, die unter Täuschung statt nach Italien zurück nach Libyen gebracht wurden, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert wurden.
Wurden nicht auch schon Haftstrafen gegen Kapitäne oder Reedereien verhängt, die an solchen Zurückweisungen beteiligt waren?
Ja, im Fall »Asso Ventotto« gab es ein Jahr Haft für den Kapitän Giuseppe Sotgiu. Die gerichtliche Wahrheit lautet, dass er eigenmächtig entschied, im Mittelmeer an Bord genommene Menschen in Libyen an Land zu bringen. Das Urteil ist rechtskräftig, Sotgiu wurde in allen drei Instanzen verurteilt. Weil es sich um seine erste strafrechtliche Verurteilung handelt, musste er die Haftstrafe aber nicht antreten.
Ordnet die italienische Seenotleitstelle immer noch »delegierte Zurückweisungen« an? Und wie reagieren Kapitäne von Frachtschiffen heute auf derartige Anweisungen?
Italien leitet dieses System von Festnahmen auf See und Deportationen in libysche Lager sogar – allerdings mehr oder weniger im Geheimen. Wir haben Beweise für weitere 800 Fälle. Italienische Reeder und Kapitäne von Frachtschiffen haben allerdings aufgehört, solche Straftaten zu begehen. Sie fürchten nach der endgültigen Verurteilung im Fall »Asso Ventotto« Gefängnisstrafen oder Schadenersatzforderungen der Opfer – wie aktuell im Fall »Asso Ventinove«, bei dem Dutzende Menschen nun den Kapitän verklagen. Einige ausländische Reeder und Kapitäne müssen das noch verstehen. Unsere Klage gegen die Reederei Vroon, die mit seiner »Vos Triton« mindestens 1000 Menschen nach Libyen abgeschoben hat, wird ihnen mit Sicherheit die Augen öffnen.
Sind Kapitäne von Frachtschiffen im Mittelmeer aus Ihrer Sicht Gegner oder Verbündete einer humanen Migrationspolitik? Denn sie retten die Menschen ja aus Seenot …
Einige Reedereien – zum Beispiel die dänische Unternehmensgruppe Maersk – achten die Menschenrechte und bringen die Menschen nicht nach Libyen. Andere, wie Augusta Offshore, Betreiberin der »Asso«-Schiffe, haben offenbar aus Opportunismus kapituliert. Einen Menschen aus dem Meer zu retten und ihn dann Mördern zu übergeben, ist ein Verbrechen, das mit Gefängnis bestraft werden muss. Josi, Seid und Amela – zwei Jungen und ein Mädchen – starben in den libyschen Lagern, nachdem sie vom Kapitän der »Asso Ventinove«, Corrado Paganim, in Tripolis an Land gebracht worden waren.
Haben Sie auch Informationen über die Opielok-Flotte, deren Schiffe für spezialisierte Aufgaben bei Ölplattformen eingesetzt werden? Laut Angaben ihres deutschen Eigners sollen sie auch Flüchtlinge nach Libyen gebracht haben – auf Anweisung der italienischen Seenotleitstelle.
Ja, ich weiß etwa von einem Pushback im Oktober 2018, als die »Jaguar« 84 Menschen nach Khoms zurückbrachte. Im November 2019 war es das Schiff »Panther«, das 33 Personen nach Tripolis zurückführte. Im Februar 2020 war dasselbe Schiff erneut beteiligt, dabei wurden 35 Menschen nach Tripolis deportiert.
Könnte das jetzige Urteil im Fall Adam Auswirkungen auf die europäische Migrationspolitik haben?
Wir hoffen, dass auf dieses Urteil weitere folgen werden, die in die gleiche Richtung gehen. Nur wenn die Fälle aller Opfer vor Gericht gebracht werden, kann dieses System der Pushbacks durch Dritte gestürzt werden.
Was genau ist eigentlich das Josi & Loni Project, und warum haben Sie es gestartet?
Wir haben das JL-Project im Jahr 2019 als Kollektiv gegründet. Ursprünglich wollten wir Zurückweisungen nach Libyen stoppen, die von Frachtschiffen unter italienischer Flagge durchgeführt wurden. Wir haben in wenigen Monaten gewonnen – es reichte, bei Augusta Offshore anzurufen und mitzuteilen, dass wir die Zurückweisung durch »Asso Ventinove« aufgedeckt, die zurückgewiesenen Personen gefunden und sie mit Anwälten zusammengebracht haben. Daraufhin beschlossen wir, den Versuch zu unternehmen, alle Zurückweisungen nach Libyen zu stoppen. Es ist ein hohes Ziel, aber wir glauben, dass wir es schaffen können. Inzwischen sind wir 50 Leute. Wir spüren zurückgewiesene Personen auf und sichern alle forensischen Beweise ihrer Fälle, die wir dann mit der Hilfe von mit unserem Projekt verbundenen Anwälten unterstützen.
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