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Armutsbericht: Armen bleibt weniger zum Leben
Preissteigerungen wirken sich besonders drastisch auf untere Einkommensschichten aus
Arme werden ärmer, so die Grundaussage des diesen Dienstag veröffentlichten Armutsberichts des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. 2020 lag das mittlere Einkommen von Personen, die unterhalb der Armutsgrenze lebten, bei 981 Euro im Monat, 2024 preisbereinigt bei 921 Euro. Die Entwicklung hänge eng mit der Inflation zusammen, weil die Einkommen nicht adäquat an die gestiegenen Preise angepasst wurden, so die Autor*innen des Berichts.
Beinahe jede sechste Person ist demnach derzeit in Deutschland von Armut betroffen. Armutsbetroffenheit bedeutet, Personen haben weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zum Leben. Der Schwellenwert lag 2024 bei 1378 Euro netto im Monat. 13 Millionen Menschen befinden sich hierzulande unterhalb der Armutsgrenze und können nicht angemessen an der Gesellschaft teilhaben. Zwischen 2022 und 2023 sank die Armutsquote, 2024 stieg sie erstmals wieder um 1,1 Prozentpunkte an. »Insgesamt bewegt sich die Armut für ein reiches Land wie Deutschland auf einem viel zu hohen Niveau«, urteilen die Autor*innen des Berichts.
»Armut ist mitten unter uns, sie wächst und die Armen werden ärmer.«
Joachim Rock Paritätischer Wohlfahrtsverband
Von Armut betroffen sind besonders Alleinerziehende, junge Erwachsene und Rentner*innen. Diese Zusammensetzung bleibt seit Jahren ähnlich. Altersarmut ist zudem weiterhin stark weiblich geprägt, wie bereits der letzte Armutsbericht kritisierte. Der Bericht macht außerdem große regionale Unterschiede sichtbar. So ist in Bayern jede achte Person von Armut betroffen, in Bremen dagegen jede vierte. Die Analysen des Paritätischen beruhen auf Zahlen des Statistischen Bundesamts.
»Die Zahlen belegen, was viele Menschen mit geringem Einkommen schon lange im Alltag spüren: Die Armen werden ärmer«, so der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, Joachim Rock, in einer Presseaussendung. »Die Kaufkraftverluste der vergangenen Jahre verschärfen die ohnehin schon schwierige finanzielle Lage von Millionen Betroffenen.«
Die Inflation macht deshalb einen Unterschied, weil die Armutsschwelle, also die oberste Einkommensgrenze, bis zu der Menschen als einkommensarm gelten, generell gestiegen ist, sich Arme aber de facto nicht mehr leisten können. Denn gleicht man die Armutsschwelle mit der Preisentwicklung ab, haben sie weniger Geld zur Verfügung, als früher. Die Armut hat sich »kaufkraftbereinigt« verschärft.
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Spannend für jene Entwicklung ist der Faktor der materiellen Entbehrung. Er bedeutet, Menschen können sich Güter oder Aktivitäten nicht leisten, die als normaler Lebensstandard gelten. So gab mehr als ein Zehntel der armen Haushalte an, beim Heizen sparen zu müssen. Ein Fünftel bis zu einem Drittel kann es sich nicht leisten, ein Auto, Kleidung oder Möbel zu kaufen oder im Notfall zu ersetzen. Einem Fünftel der armen Haushalte fehlt das Geld, um sich mindestens einmal im Monat mit Bekannten zu treffen, sie sind also von sozialer Teilhabe ausgeschlossen.
Eine besondere Rolle spielt materielle Entbehrung, wenn Einkommen und Einkommensverteilungen gleich bleiben, aber die Kaufkraft sinkt. So geschehen während der Inflation, als Preise für Wohnen, Energie und Lebensmittel stiegen. 5,2 Millionen Personen müssen laut den Daten des Paritätischen mit erheblicher materieller Entbehrung leben. Darunter befinden sich etwa 1,1 Million minderjährige Kinder und Jugendliche sowie 1,2 Millionen Vollzeiterwerbstätige. Die Zahl letzterer hat sich allerdings positiv entwickelt. Ausschlaggebend für diese Verbesserung sei aus Sicht des Verbandes die Erhöhung des Mindestlohnes sowie die Reform des Wohngeldes.
Was hingegen weniger werde, sei die Schutzwirkung des Sozialstaats. 2021 wurde die Armutsquote durch staatliche Umverteilung um 27,7 Prozentpunkte reduziert, 2024 dagegen nur noch um 25,1 Prozentpunkte. Die Schlussfolgerung des Paritätischen daraus: Sozialleistungen müssten »deutlich erhöht werden«.
Der Paritätische veröffentlicht den Armutsbericht jährlich, erstmals zum Tag des Mauerfalls 1989, und prägte damit den Armutsbegriff in Deutschland. Laut Selbstdefinition »begrenzt« er sich nicht auf eine Analyse, sondern beinhaltet auch Lösungsvorschläge für erwähnte Probleme. »Eine Gesellschaft frei von Armut ist möglich«, schreiben die Autor*innen des Berichts. Um das zu erreichen, brauche es gute Löhne, eine bessere soziale Absicherung und bezahlbares Wohnen. »Was jedoch auf keinen Fall hilft, ist Hetze gegen Menschen, die von Armut betroffen und auf Sozialleistungen angewiesen sind.«
Wie sehen diese Forderungen nun mit Blick auf den Koalitionsvertrag von SPD und CDU und die zu erwartende Politik der kommenden Jahre aus? »Im Vertrag fehlen klare Bekenntnisse zur Erhöhung des Wohngeldes, zur Bekämpfung von Kinderarmut und zur notwendigen Umverteilung von Vermögen«, kritisiert Rock gegenüber »nd«. »Armut wird als ein Thema anderer Länder beschrieben, dabei zeigt der Paritätische Armutsbericht: Armut ist mitten unter uns, sie wächst und die Armen werden ärmer.« Die angekündigte Rücknahme einer schnelleren Anpassung der Regelsätze würde Armut und Not zusätzlich verschärfen.
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