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Neukölln-Komplex: »Antifas wissen mehr als der Verfassungsschutz«

Die Betroffene Claudia von Gélieu berichtet vom Untersuchungsausschuss zur Anschlagserie

Zu jedem Termin im Neukölln-Komplex-Untersuchungsausschuss (zweiwöchentlich) demonstrieren Antifaschist*innen vor dem Abgeordnetenhaus.
Zu jedem Termin im Neukölln-Komplex-Untersuchungsausschuss (zweiwöchentlich) demonstrieren Antifaschist*innen vor dem Abgeordnetenhaus.

Sie wurden 2017 Opfer eines rechtsextremen Brandanschlags. Der Anschlag ist eine der über 70 Taten, die zum »Neukölln-Komplex« gezählt werden. Wie sicher fühlen Sie sich denn derzeit in Ihrem Kiez, Claudia von Gélieu?

Ich glaube, dass sich niemand sicher fühlen kann – egal wo –, solange es Nazis gibt. Denn sie sind nicht nur eine abstrakte Demokratiegefährdung, sondern es gibt ganz konkrete Gewaltangriffe. Wer meint, dass das nur Geflüchtete, Antifaschist*innen oder queere Menschen treffen würde, also Menschen, die sie besonders im Visier haben, der irrt sich. Bei dem Brandanschlag auf unser Auto, das an der Hauswand stand, war es großes Glück, dass es nicht übergegriffen hat auf unser Reihenhaus. Da hätten auch die Häuser der Nachbar*innen gebrannt. Deshalb müssen sich alle den Protesten gegen die Nazis anschließen.

Bei dem Komplex geht es nicht nur um Nazis, sondern auch um potenzielle Verstrickungen zwischen den Sicherheitsbehörden, der Justiz und der rechtsextremen Szene. Diese soll unter anderem ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss aufklären. Hat der Ausschuss dazu beigetragen, dass Sie sich sicherer fühlen?

Ich habe nie Illusionen gehabt über die Sicherheitsbehörden. Aber es ist erschütternd, was im Untersuchungsausschuss zutage tritt. Bis heute werden die Angriffe völlig bagatellisiert: Da wird von Sachbeschädigung gesprochen. Da wird das wie ein x-beliebiger Autobrand dargestellt. Da fallen so Äußerungen wie, dass die Betroffenen unter »Verfolgungswahn« leiden. Und dass der Untersuchungsausschuss nur stattfindet, weil wir so ein großes Geschrei machen. In einer der letzten Sitzungen wurde sogar behauptet, dass wir die Polizei und die Staatsanwaltschaft von der Arbeit abhalten. Es findet eine völlige Täter-Opfer-Umkehr statt. Die wichtigste Frage von den Regierungsabgeordneten ist: Haben die Sicherheitsbehörden genügend Personal, haben sie genügend Technik? Die überraschende Antwort: Nee, daran liegt es nicht.

Was denken Sie, warum Nazis Sie angegriffen haben?

Ich bin seit Jugendzeiten antifaschistisch aktiv. Seit Jahrzehnten bei der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bunde der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). Und beruflich organisiere ich feministische und antifaschistische Stadttouren. Mein Mann und ich haben beide jahrzehntelang in der Galerie Olga Benario mitgearbeitet, ein antifaschistisches Projekt in Neukölln. 1984 ist diese schon unter Polizeischutz eröffnet worden. Seit 2000 hat es Angriffe auf die Galerie gegeben, was von der Polizei bagatellisiert wurde. Die wollten nicht mal Anzeigen aufnehmen. Wir haben eine wahnsinnige Angst gehabt, dass irgendwann während einer Veranstaltung ein Sprengsatz geworfen wird. Als die Nazis dann ab 2016 auf individuelle Angriffe übergegangen sind, hat es auch uns getroffen.

Interview

Claudia von Gélieu ist Mitglied bei der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) und organisiert antifaschistische und feministische Stadttouren. Außerdem organisiert sie regelmäßig Veranstaltungen und Demonstrationen bei »Rudow empört sich«.

Was ist Ziel dieser Anschläge?

Ziel ist es, uns, die in linken Organisationen, Antifa-Projekten, in der Geflüchteten-Solidarität und so weiter aktiv sind, Angst einzujagen, damit wir diese Arbeit einstellen. Nazis wollen den öffentlichen Raum und die Gesellschaft übernehmen.

Haben Sie sich in Ihrer Arbeit nach dem Anschlag eingeschränkt?

Nein, im Gegenteil. Betroffene haben in Rudow die Initiative »Rudow empört sich« gegründet, mit sehr viel positiver Resonanz in der Bevölkerung. Die Nazis haben in Rudow genau das Gegenteil erzielt von dem, was sie wollten. Und zusammen mit anderen haben wir durchgesetzt, dass nach Jahren zumindest zwei Täter verurteilt wurden und es den Untersuchungsausschuss gibt. Ich selbst bin auch bei fast allen 45 Sitzungen dabei gewesen und bei den Kundgebungen, die es jedes Mal vor dem Parlament gibt, um Aufklärung des rechten Terrors zu fordern.

Der dritte Zeugenkomplex im Untersuchungsausschuss wurde nun geschlossen. Es sieht so aus, als würde er bald enden. Wen oder welche Beweise haben Sie im Ausschuss vermisst?

Bis zum Schluss haben die Sicherheitsbehörden sich verweigert, den Abgeordneten Akten zur Verfügung zu stellen. Wenn aufgeklärt werden soll, was beim Neukölln-Komplex schiefgelaufen ist und warum es jahrzehntelang keine Aufklärung gab, sind die Akten wichtig, um die Zeugen mit Widersprüchen und Nicht-Erinnern zu konfrontieren. Erst nach Jahren kamen im Februar Ermittlungsakten aus dem Prozess (gegen die Neonazis Tilo P. und Sebastian T., Anm. d. Red.). Das sind riesige Datenmengen, die kurz vor Schluss des Untersuchungsausschusses gar nicht mehr zu bewältigen sind. Vom Verfassungsschutz gab’s alles nur häppchenweise …

Eine Behörde, die grundsätzlich in der Kritik steht.

Der Verfassungsschutz ist ein riesiges Problem, das wissen wir Linken. Aber im Ausschuss ist noch mal deutlich geworden, wie völlig unsinnig, ja kontraproduktiv er ist. Wer sich auf den Verfassungsschutz verlässt, ist verlassen. Erstens wissen Antifas mehr als der Verfassungsschutz, was im Ausschuss eingestanden werden musste. Zweitens hält er alles geheim – selbst gegenüber der Polizei. Geheimes Wissen hilft jedoch niemandem. Drittens bleibt die Frage offen, ob es V-Leute gibt, die beim Neukölln-Komplex mitgemischt haben. Wir kennen das aus dem NSU-Komplex.

Wie liefen denn Zeug*innen-Befragungen von Betroffenen im Ausschuss ab?

Wir haben zwar durchgesetzt, dass wir zuerst befragt wurden. Aber unsere Perspektiven spielen leider so gut wie gar keine Rolle. Nur Grüne und Linke greifen sie manchmal auf. Die SPD und CDU sind immer auf der Seite der Sicherheitsbehörden.

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Das klingt so, als sei Ihr Vertrauen in staatliche Institutionen durch den Untersuchungsausschuss geschwächt worden.

Uns ist vom Innensenator, vom Staatssekretär für Inneres, vom Justizsenator, von anderen leitenden Polizeibeamten permanent versichert worden, welche Priorität der Neukölln-Komplex in ihrer Arbeit habe. Der Untersuchungsausschuss macht klar deutlich: Das sind Lügen. Nach dem Terror-Anschlag am Breitscheidtplatz war Islamismus der absolute Schwerpunkt bei den Sicherheitsbehörden. Und der CDU-Senator Henkel hat die Sondereinheit der Polizei vor Rechtsextremismus (EG REX), die es in Süd-Neukölln gab, aufgelöst, weil sein Fokus auf der Rigaer Straße, also dem Kampf gegen links, lag. Genau in der Phase hat es die meisten Anschläge gegeben.

Wie sieht es denn jetzt in der Ermittlungsgruppe Rechtsextremismus (EG Rex) aus?

Im Moment ist die EG Rex nur mit einem Polizisten im Einsatz und der gibt aus familiären Gründen die Arbeit auf. Er ist ganz wichtig als Ansprechperson für uns, wenn wir Veranstaltungen machen. Er kommt dann auch und würde Nazis erkennen, die stören oder angreifen wollen. Die Gefahr ist nun, dass die EG Rex ganz aufgelöst wird.

Was müsste denn passieren, damit nicht nur der Neukölln-Komplex aufgeklärt wird, sondern auch keine weiteren Angriffe aus der rechten Szene passieren?

Da hilft nur gesellschaftliches Engagement und gemeinsam wachsam sein. Wenn ein Angriff stattfindet, sollte allerdings auch die Polizei eingreifen. Und dafür muss es Menschen in der Polizei geben, die Bescheid wissen. Doch die Beamten werden ständig ausgetauscht, kriegen keinerlei Qualifikation. Viele erkennen nicht mal ein Nazi-Zeichen in der Stadt. Und ein Problem sind nicht nur rechte Polizeibeamte. Der Untersuchungsausschuss hat gezeigt, dass die Sicherheitsbehörden mit den bisherigen Mitteln nicht kontrollierbar sind. Ihre Selbstgerechtigkeit, mit der sie auch im Ausschuss gegenüber den Abgeordneten auftreten, wird selbst zur Gefahr für eine demokratische Gesellschaft und Menschen, die von Polizisten erschossen werden.

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